Landesarbeitsgericht: »Maultaschenfall« nach Vergleich nun vor dem Ende?

Rechtsprechung

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Maultaschenfall vor dem Ende? Vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) in Freiburg kam es am 30.3.10 zu einem Vergleich, der aufhorchen lässt (Az: 9 Sa 75/09).

Zum Sachverhalt: Eine Altenpflegerin, 58 Jahre alt, 17 Jahre in der Firma beschäftigt, entwendete trotz Verbots 6 übrig gebliebene Maultaschen zum eigenen Verzehr (Wert 4 Euro). Darauf folgte die fristlose Entlassung, die Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht hatte im Oktober vergangenen Jahres keinen Erfolg. Das Gericht entschied – wie die deutschen Arbeitsgerichte überwiegend seit der Grundsatzentscheidung des BAG aus dem Jahr 1984 mit dem sogenannten Bienenstichurteil – zu Ungunsten der Klägerin (Az: 4 Ca 248/09). Das Hauptargument: Diebstahl ist Diebstahl, auf den geringen Wert komme es nicht an, entscheidend sei der Vertrauensverlust.

Und so gab es über Jahrzehnte unzählige Entscheidungen in »Bagatellfällen«, ohne dass es in der Öffentlichkeit nennenswertes Aufsehen gab. Bis, ja bis während der Finanz- und Wirtschaftskrise Bank- und Konzernmanager trotz nachgewiesener Misswirtschaft und Schadensverursachung in Milliardenhöhe noch etliche Millionen Abfindungen und Boni-Zahlungen erhielten.

Zur gleichen Zeit liefen Entlassungsprozesse vor Arbeitsgerichten wegen z. T. sehr geringwertiger Eigentumsdelikte von Beschäftigten: Der Fall »Emely« mit Pfandbonunterschlagung von 1,30 Euro, die Aufladung eines Handys, Diebstahl von Brotaufstrich, Entwendung einer Frikadelle usw. mit nachfolgenden und gerichtlich bestätigten fristlosen Entlassungen. Die Öffentlichkeit war jetzt empört, das Gerechtigkeitsempfinden der Bürger im Lande zutiefst gestört, was ist bei der extrem unterschiedlichen Behandlung überhaupt noch gerecht?

Damit keine Zweifel aufkommen: Es stimmt, Diebstahl ist eine vorsätzliche und rechtswidrige Straftat. Sie kann zur Entlassung führen, der § 626 BGB fordert aber zwingend, eine Interessenabwägung vorzunehmen, d.h., es sind die konkreten Umstände des Einzelfalles und die Interessen beider Vertragsteile abzuwägen. Hier das Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers gegenüber dem Auflösungsinteresse des Arbeitgebers. Über Jahrzehnte überwog in den Gerichtsentscheidungen das Auflösungsinteresse, denn Diebstahl sei Diebstahl, auf den geringen Wert komme es nicht an, das Vertrauen sei dahin.

Während im Maultaschenfall die 1. Instanz dabei blieb und eine Abmahnung als milderes Mittel nicht für ausreichend hielt, kam das LAG nach eingelegter Berufung gegen das Entlassungsurteil des Arbeitsgerichts zu einem bemerkenswerten Vergleichsvorschlag, der jedenfalls ein realistisches Herangehen deutlich macht.

Das LAG ließ überhaupt keinen Zweifel, dass hier ein Diebstahl begangen wurde, vorsätzlich und rechtswidrig,. Aber wiegt der damit verbundene Vertrauensverlust so viel schwerer als 17 Jahre tadelsfreie Betriebszugehörigkeit, als die Unsicherheit, als fristlos Entlassene 58-Jährige jemals wieder einen Job zu bekommen?

Das LAG hätte eine Abmahnung als Reaktion angesichts der gesamten Umstände für angemessen gehalten, nicht aber die fristlose Entlassung. Der Vergleichsvorschlag des LAG lässt erkennen, dass es auch andere Alternativen gibt, wertet man die Arbeitswelt und das Arbeitsverhältnis des einzelnen anders als vor 25 Jahren.

Die Klägerin verliert zwar ihren Job, aber zu unvergleichlich anderen Bedingungen als im Falle der fristlosen Entlassung. Der Vergleich enthält die einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.12.2009, was einer ordentlichen Kündigungsfrist entspricht, sodann eine Gehaltsnachzahlung von acht Monatslöhnen (ca. 17 500 Euro) und zudem eine Abfindung in der üblichen Größenordnung wie § 1 a KSchG, rund 25 000 Euro.

Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich bei der Interessenabwägung in solchen Fällen nach nunmehr 25 Jahren eine Art Wertverschiebung andeutet, d. h., dass die heutige Arbeitswelt mit ihren z. T. extrem unsicheren Arbeitsverhältnissen einfach anders zu bewerten ist als zu früheren Jahren.

Insofern steht die Arbeitsgerichtsbarkeit auch künftig vor der schwierigen Aufgabe, das Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers gegenüber dem Auflösungsinteresse des Arbeitgebers abzuwägen, was sicher von der Spezifik des Einzelfalles abhängt. Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn künftig eher mit der Abmahnung reagiert wird als mit der fristlosen Entlassung.

Prof. Dr. JOACHIM MICHAS

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