Warten müssen – ein Todesurteil?
»Der Schmerz« nach Marguerite Duras am Deutschen Theater Berlin, Regie: Corinna Harfouch
Ein Mensch, der liebend auf einen anderen Menschen warten muss, ist Folteropfer. Warten zu müssen, kommt einem Todesurteil gleich, das lebend abgebüßt wird. Dies macht jede unerfüllte Sehnsucht zum Dämon: Denn wer gegen eine Abwesenheit existieren und ankämpfen muss, wer also zum Warten verurteilt wurde, gerät im Licht der sich türmenden Erwartung zugleich in den Sog des Dunklen, Zerstörerischen; er verliert sich an die seelenverätzenden Kräfte der Fantasie.
Sehnsucht: eine Gratwanderung an Abgründen – Hoffnung schürt auch deren Gegenteil, die Verzweiflung. Gesteigertes Empfinden, diese wundervolle Gabe unseres Bewusstseins, ist somit immer auch der große Wundenreißer, der uns mit Bildern schlimmstmöglicher Wendungen peinigt.
Die Französin Marguerite Duras (»Hiroshima mon amour«, »Liebhaber«, »Heiße Küste«) war eine Autorin, die am zermürbenden Fluss der Zeit litt, am Warten auf das Wahre, das nie kommt, »denn keine Liebe der Welt kann die Liebe ersetzen, auf die wir hoffen«. So erscheint in vielen ihrer Texte die Liebe als schöner Ruf und schlimmer Ruch zugleich, ein Bejahen und Verneinen, ein wirklich tiefes Zuhause und doch ebenso ein ewiges Exil.
1985 veröffentlichte Duras ein zufällig wiedergefundenes Tagebuch aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges, »Der Schmerz«; sie hatte den authentischen Text in eine Erzählung umgeleitet, das Romanhafte führt so den autobiografischen Text gleichsam ins Fremde der reinen Literatur.
Die Schauspielerin Corinna Harfouch hat den Text der Duras für die Bühne eingerichtet (Ausstattung: Julia Oschatz), sie führte Regie, und sie spielt mit im sechsköpfigen Ensemble (neben ihr Annette C. Daubner, Johannes Gwisdek, Hermann Heisig, Julia Oschatz, Anna-Luise Recke). Uraufführung war vor wenigen Wochen am Kammertheater des Schauspiels Stuttgart, nun erlebte der achtzigminütige Abend seine Berlin-Premiere am Deutschen Theater.
Eine Frau wartet im Pariser Auffanglager Orsay auf ihren Mann, es ist April 1945, er war ins KZ Buchenwald verschleppt worden. Die Ungewissheit wird ihr zur quälenden Selbstprüfung. Sie verzehrt sich nach ihm – und hat doch eine Affäre mit einem anderen. Sie giert nach dem hoffentlich noch Lebenden – und wird doch erschüttert von Albbildern seines möglichen elenden Verreckens. Sie ist Hingebungsvolle – und Verräterin, nicht nur am eigenen Mann, sondern auch an einem Kämpfer des Widerstandes, dessen Schicksal gleichsam ihre eigene Tatenlosigkeit anklagt. So ist sie in der ahnungsvollen Helle des kommenden Friedens eine schwer Verschattete, und die Welt, die doch gerade wieder Zutrauen fasst in eine lebbare Ordnung, versinkt ihr endgültig zum unbezähmbaren Chaos. Der Mann wird heimkehren – in eine Trennung.
Es ist kein Drama, das da zu sehen war, eher ein essayistisches Umkreisen, mit den Mitteln eines räumlich-darstellerischen Ertastens. Schwarznahes Bühnenrund. Die gesamte Fläche verstellt mit schier unzähligen dominosteinigen Schaumstoffkartons. Sie wirken wie Koffer eines endlosen Exils, oder es sind die Stelen der Mahnmalkultur oder die Ziegelsteine einer Mauer, auf die mit Pinsel und weißer Farbe eine Szene nach Goyas Füsilierten-Bild gemalt wird. Es geschieht ein ständiges Auf- und Umschichten dieser Kartons, ein immerwährendes leises geschmeidiges oder hektisch jagendes (Menschen wie gehetzte Maschinen) Fügen der Quader: ein Gebirge der Verwirrung, das zu durchsteigen ist, ein Steinbruch der Erinnerung, oder Grabmale; dann wieder Markierungszeichen, als habe mitten im Warten die Grenze der Aushaltbarkeit ihre ganz eigene Architektur entworfen.
Und natürlich wird am Ende eingerissen, niedergestoßen, um dann erneut zu bauen, zu fügen, zu ordnen. Der Schmerz, aufgefangen in einem unaufhörlichen Ritual, dem die Regie hemmungslos Zeit gibt. Untermalt mit melancholischen Piaf-Klängen, beschallt mit metallenem, kratzendem Elektronik-Ton. Das schrammt über Strecken nicht an der Gefahr des langatmigen, übermäßig Symbolbemühten vorbei, aber im Nachhinein arbeitet diese unablässige Schaustelle Baustelle doch inständig im Gemüt: Geschichte als Ge-Schichte, das die Räume füllt, ohne die Leere zu beseitigen, in jenem Hallraum, der uns die eigenen großen Worte von Moral, Gewissen, Eindeutigkeit wie Steine zurückwirft, an denen wir verbluten.
Die Darsteller sind barfuß, die Harfouch ist die Ich-Erzählerin. Eros einer gut gezirkelten Beiläufigkeit. Sie spricht nicht, sie härmt den Text ab, das Schmucklose hat ein hartes, unaufwendiges Strahlen. Zwischen der Kartonage verschwindet sie, eine Beobachterin aus dem Hintergrund, misstrauisch, mit bitterer Erkenntnis geschlagen, zerrissen zwischen Erinnerungszwang und Vergessenslust, zwischen Treueschwerkraft und nervösem Taumeln ins andere Leben.
Die Aufführung erstaunt, ihr entströmt dringliche Aufrichtigkeit; eine sichtende Benommenheit hält sie in seltsam traurigem Schweben. Aber plötzlich ist da eine treibende, dynamische Kontur: Die beiden Tänzer Anna-Luise Recke und Hermann Heisig porträtieren wuchtig und weich, weh und wild das ewige kämpfende, sich in den Kampf hineinliebende Paar Mensch; Liebe als Herrschaftsverhältnis, als Naturereignis – und nie hat Natur einen Sinn für den Schwächeren; es hat eine immense Kraft, wie ineinander Zerfließen und einander Zerreißen zur Einheit werden; die Leiber ein gemeinsamer Entwurf, dann das grausame Zerwürfnis.
Und aus diesem choreografischen Gewaltakt der Annäherung und der Abstoßung tritt Anna-Luise Recke, atemlos, in die Erzählung hinein, die diese szenische Collage abschließt: Es ist der Bericht über eine Folterszene, in der Rèsistance-Kämpfer einen Denunzianten richten; Opfer üben sich in der Praxis der Täter; eine Momentaufnahme vom Siegeszug des Schuldigwerdens durch alle weltlichen Reihen.
Am Ende wieder stilles Steine-Schichten. Nachsinnen, während die Spieler fast unmerklich hervor in den Schlussapplaus treten. Jede Liebe, jedes Mühen um Gerechtigkeit: immer auch Quelle neuen Schmerzes, in dem die wirklich große Anmutung besteht, ein zentrales Gefühl für den Tod zu entwickeln. Und im Warten Mensch zu bleiben.
Nächste Vorstellung: 9. Juni
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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