Solange es Gegenwart gibt ...
»Panorama« – der große Roman von H.G. Adler
Der Prager-deutsche Autor H.G. Adler hatte ein bewegtes Leben. 1907 geboren, verbrachte er seine Kindheit in der tschechischen Hauptstadt, die damals noch auf dem Territorium der k.u.k-Monarchie lag. Als Jude überlebte er Theresienstadt und Auschwitz und ging nach dem Krieg ins englische Exil. Dort war er mit Elias Canetti befreundet, veröffentlichte in den fünfziger Jahren das erste historische Werk über Theresienstadt, das bis heute Standardwerk ist, und schrieb Romane und Erzählungen. Adler starb 1988 in London.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb H.G. Adler den Roman »Panorama«. Er erzählt darin in zehn in sich abgeschlossenen Kapiteln aus dem Leben eines Mannes namens Josef Kramer, der, wie Adler betonte, nur zufällig an »Josef K.« aus Kafkas »Process« erinnert. Man erfährt von den ersten Erinnerungen an den Besuch des Panoramas bis zur Entscheidung, ins englische Exil zu gehen. Brüche und Neuanfänge prägen das Leben von Adlers Helden. Brüche, von denen die Einlieferung ins Konzentrationslager der schlimmste war. Trotzdem hat H.G. Adler der Lagerzeit nur ein Kapitel gewidmet. Wie sein Sohn, der englische Germanist Jeremy Adler, im Nachwort schreibt, lag seinem Vater »nie daran, aus Auschwitz Kapital zu schlagen – ein Vorwurf, den er selbst später anderen Autoren entgegenbrachte«.
»Panorama« ist deshalb vor allem ein eindrucksvolles Porträt der Zwischenkriegszeit, das aus den Lebenserfahrungen eines deutschsprachigen Pragers besteht. Adler beschreibt darin den Drill im Internat in Dresden, erzählt von einer Gruppe Jugendlicher, die in der Nachfolge der Wandervogelbewegung in einem Zeltlager selbstbestimmt den Sommer verbringt, berichtet von Johannes, einen charismatischen Mann, der seine Schüler in seiner Wohnung um sich schart und mit ihnen über Religion, Mystik und praktische Lebensphilosophie diskutiert und schreibt über die Zeit der Zwangsarbeit. Hier erklärt Adlers Held dann einem der Mitgefangenen seine Überlebensstrategie. Solange es noch eine Gegenwart gäbe, sagt er, »sollte der Mensch nicht verzweifeln, die Gegenwart ist ein ständiger Quell der Erneuerung« und sei »Überraschung und unvorhersehbar, man soll sogar auf den Willen vorauszusehen verzichten«.
Befand sich Josef zunächst in Distanz zur Welt, die er wie durch das Guckloch des Panoramas an sich vorbeiziehen ließ, heißt es nun: »Das Recht der unbefangenen Zuschauerschaft ist verwirkt ... jetzt gilt es zu zeigen, was er selbst gelernt und geschaffen hat«. Insofern ist »Panorama« ein Entwicklungsroman, der allerdings sofort wieder vom Helden in Frage gestellt wird: »Josef denkt einen Augenblick, daß er am Ende einer Entwicklung steht, aber diesen Einfall verwirft er schnell, da er sich erinnert, wie oft er schon ähnlich gedacht hat ...«
H.G. Adler erzählt die Geschichte von Josef Kramer atemlos, so, als hätte er nicht viel Zeit, das Leben seines Helden zu Papier zu bringen. Manchmal ermüdet die Detailfülle der Erzählung den Leser, aber er spürt, dass alle Einzelheiten wohlüberlegt in das Buch eingeflossen sind. Die Atemlosigkeit erinnert einerseits an die Erzählung eines aufgeregten Kindes, andererseits an jemanden, der den Tod immer vor Augen hat. Insbesondere das Kapitel über die Lagererfahrung beeindruckt durch die Genauigkeit der Beschreibung. »Panorama« – das Buch eines Überlebenden, das zu lesen lohnt.
H.G. Adler: Panorama. Roman. Zsolnay Verlag. 624 S., geb., 27,90 €.
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