Ein grauer Bus in der Rabatte
Vor 70 Jahren begannen die »Euthanasie«-Morde auf dem Pirnaer Sonnenstein. Ein Kunstwerk soll die Bürger nun daran erinnern
Das Kunstwerk beginnt seinen Zweck schon zu erfüllen, da ist es noch nicht einmal fertig aufgestellt. Am Arm eines Kranes schwebt ein Betonteil über Baumkronen neben der kleinen Parkanlage in der Innenstadt von Pirna. Langsam senkt sich das wuchtige graue Element, das die vordere Hälfte eines Busses darstellt, auf einen Sockel, auf dem schon das Heck des Gefährts steht. Um die Rabatte stehen dicht gedrängt Anwohner und Passanten, die drei Arbeitern im Blaumann beim Ausrichten des Teils zuschauen. Plötzlich springt ein nicht mehr ganz nüchterner Punk von einer Bank auf und brüllt über den Platz. »Die Hälfte von denen, die hier stehen, haben damals mitgemacht«, ruft er: »Und jetzt fühlt ihr euch als Opfer!« Die Zuschauer sollten »auf die Knie fallen und bereuen«, ruft er noch, bevor zwei Musiker zu spielen beginnen. Das Betonteil verharrt über der Wiese. »Wohin bringt ihr uns?«, ist darauf zu lesen, dazu zwei Jahreszahlen: 1940 – 1941.
Morden statt Pflegen
Ein grauer Bus ähnlich dem, der jetzt in Beton gegossen im Zentrum von Pirna steht, fuhr am 28. Juni 1940 nach Pirna-Sonnenstein hinauf. Auf der Höhe über dem historischen Stadtzentrum steht nicht nur ein Schloss, sondern auch eine 1811 gegründete Heilanstalt. Sie galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts als reformorientiertes Haus. Nach kurzzeitiger Schließung war sie aber nicht wieder in Betrieb genommen worden, um kranken Menschen Pflege und Betreuung zuteil werden zu lassen. Im Haus C 13 war vielmehr eine Tötungsanstalt eingerichtet worden. Die zehn Männer, die heute vor 70 Jahren aus Waldheim dorthin gebracht worden waren, wurden in einen Raum geführt, der ihnen wie ein Duschraum erscheinen musste. Aus den Brausen aber kam Kohlenmonoxid. Die Männer durchlitten einen qualvollen Todeskampf. Ihre Leichen wurden im Nachbarraum in einem von zwei Öfen verbrannt. Die Asche wurde Wochen später an die Hinterbliebenen geschickt – oder schlicht den Hang hinter dem Haus hinuntergekippt.
Die Busse, die vom kommunalen Verkehrsunternehmen zur Verfügung gestellt worden waren, fuhren fortan regelmäßig: »Sie kamen mehrmals pro Woche, nur im Winter seltener«, sagt Boris Böhm. Er leitet die Gedenkstätte, die vor zehn Jahren im Gebäude C 13 eröffnet wurde. Nebenan betreibt ein Wohlfahrtsverband eine Werkstatt für Behinderte, auf dem Dachboden von C 13 erläutert eine bedrückende Ausstellung das schreckliche Schicksal ihrer Leidensgenossen im »Dritten Reich«.
Das NS-Regime war kaum an der Macht, da wurde im Juli 1933 ein »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« beschlossen. Viele geistig behinderte und psychisch Kranke wurden danach zwangsweise sterilisiert. Sie galten freilich immer noch als »unnütze Esser«, weswegen 1939 ein perfider Plan konzipiert wurde: Unter dem irreführenden Begriff »Euthanasie«, wörtlich »schöner Tod«, wurden Zigtausende Insassen von Anstalten und Einrichtungen der Behindertenpflege planmäßig ermordet. Ärzte schrieben Gutachten mit fingierten Todesursachen, dann wurden die Opfer in eine der insgesamt sechs Tötungsanstalten gebracht. Zwischen Juni 1940 und August 1941 schickte man allein im sächsischen Pirna 13 720 Kranke ins Gas, dazu 1031 KZ-Häftlinge.
Rauch über der Stadt
Die Einwohner der Stadt müssen gewusst oder geahnt haben, was sich auf dem Sonnenstein vollzog, sagt Böhm. Zwar waren die Beteiligten – neben Ärzten und Beamten des Innenministeriums Wachleute, Köchinnen, Handwerker und die Fahrer der vier grauen Busse – zum Schweigen verpflichtet. Viele Bürger hätten aber den süßlichen Geruch und den Rauch bemerkt, der an manchen Tagen über der Stadt hing, sagt Böhm. Dennoch sei viele Jahrzehnte geschwiegen worden – spätestens ab 1947, als in Dresden ein Prozess gegen neun Beteiligte, unter denen aber kein Arzt war, abgeschlossen wurde. Von den Medizinern kamen nur zwei vor Gericht. Einer wurde 1967 in Frankfurt am Main freigesprochen; ein 1986 begonnenes zweites Verfahren wurde ebenso wie das gegen einen Kollegen wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.
Öffentliche Debatten entfachten die Verfahren kaum, und auch über die Opfer dieses ersten industriell organisierten Massenmordes wurde viele Jahrzehnte wenig geredet: »Das Thema war stark unterbelichtet«, sagt Böhm – in Ost wie West. Erst 1983 wurde in der Bundesrepublik die erste Gedenkstätte für Opfer der »Euthanasie« in der NS-Zeit eröffnet; in der DDR wurde 1989 in Bernburg eine Ausstellung eingeweiht. In Pirna hatte seit den 70er Jahren eine kleine Tafel auf die Verbrechen vom Sonnenstein hingewiesen. 1991 gründete sich ein »Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V.«; im Jahr 2000 eröffnete die Gedenkstätte.
Deren Ausstellung ist informativ und sehr berührend. Auf Tafeln in einem Raum im Keller werden Biografien einzelner Opfer geschildert, etwa von Johanna Stähle, der Tochter eines Dresdner Metalldrehers, die als Prokuristin einer Metallbaufirma arbeitete, zwei Kinder hatte, Auto fuhr und überhaupt ein »selbstständiges und erfolgreiches« Leben führte, bevor sie mit 29 Jahren psychische Probleme bekam. Sie sollten in der Heilanstalt Arnsdorf behandelt werden. Statt geheilt zu werden, wurde sie am 27. September 1940 mit 38 Jahren in Sonnenstein ermordet.
Mit derlei Schicksalen und der Perversion des ärztlichen Anspruchs, Kranke zu heilen und zu pflegen, muss sich auseinandersetzen, wer die Gedenkstätte auf dem Sonnenstein besucht. Viele Schulklassen kommen; auch Touristen finden häufig den Weg. Pirnaer Bürger freilich seien seltener unter den Besuchern, sagt Johannes Enke von der »Aktion Zivilcourage«. Die Initiative arbeitet seit Jahren daran, die Zivilgesellschaft in Pirna zu stärken und Rechtsextremismus zurückzudrängen, wozu auch die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte gehört. Dies geschehe in der Stadt noch nicht so intensiv, wie es wünschenswert sei, sagt Enke: »Oft heißt es, das sei oben auf dem Sonnenstein passiert – als ob er nicht zur Stadt gehört.«
Im Trägerkreis, der sich um die Aufstellung des grauen Busses kümmerte und in dem neben der Aktion Zivilcourage unter anderem auch die Gedenkstätte mitarbeitet, möchte man mehr Bürger an die dunklen Seiten der Geschichte erinnern. »Wir wollen Stadt und Gedenkstätte enger verbinden«, sagt Böhm. Der Stadtrat unterstützt das Anliegen: Er bewilligte einstimmig einen Zuschuss zu den Kosten von 20 000 Euro, die für Transport und Aufstellung anfallen. Nur zwei NPD-Abgeordnete enthielten sich.
Spur auf dem Pflaster
Die Aktion Zivilcourage unternahm bereits vor Jahren einen Anlauf, eine augenfälligere Verbindung zwischen Stadt und Gedenkstätte zu schaffen. Ein Künstler hatte die Idee, eine Spur bunter Kreuze auf Pflaster und Bordsteine zu sprühen. Sie zieht sich vom Elbufer über den Marktplatz den Berg hinauf und endet im Keller der Gedenkstätte vor einer Glastafel, auf der Namen von Opfern stehen. Regelmäßig lädt die Initiative dazu ein, verblasste Kreuze zu erneuern. Die »immerwährende Arbeit« habe großen Charme, sagt Enke: Sie zeige, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema nie abgeschlossen sei, und biete Gelegenheit, über die Menschen nachzudenken, die hinter den Kreuzen stehen: »Da passiert mehr, als wenn man nur eine Zahl liest.«
Ähnliche Denkanstöße soll nun auch der graue Bus bieten, der im Park direkt neben der Fußgängerzone im historischen Stadtzentrum und damit an einem Ort steht, den viele Bürger auf dem Weg zum Bus oder zur Bahn passieren. Die Künstler Andreas Knitz und Horst Hoheisel, die den Betonbus zunächst für die Heilanstalt Weisenau bei Ravensburg entwarfen und ein zweites Exemplar seit einigen Jahren in die gesamte Republik verleihen, hätten ihr Werk lieber an einem anderen Ort aufgestellt gesehen: am Obermarkt, von dem der Maler Canaletto einst eine berühmte Stadtansicht malte. Als die Pläne bekannt wurden, gab es einigen Aufruhr in der Bürgerschaft: Was, sei gefragt worden, sollten nur die Touristen denken?
Die Statik sorgte dafür, dass der Bus nun doch im Park steht: Die Leitungen unter dem Obermarkt hätten 75 Tonnen Beton nicht ausgehalten. Der jetzige Standort, sagt Enke, sei aber ohnehin der bessere Platz, um in dem einen Jahr, in dem das Kunstwerk in Pirna Station macht, möglichst viele Menschen zum Nachdenken einzuladen – zumal die Plastik, die begehbar ist, schräg auf der Wiese steht. Davor und dahinter wurden ein paar Wegplatten gelegt: »Wer abkürzen will«, sagt Enke, »kann direkt durch den grauen Bus gehen.«
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