Schockstarre überwinden
Winfried Wolf über sieben Krisen und einen Crash
Die Verunsicherung über Ausmaß und weiteren Verlauf der gegenwärtigen ökonomischen Krise ist in Deutschland groß. Politik und Medien haben daran wesentlichen Anteil. »Es wird niemals wieder wie zuvor«, ließ sich ein sichtlich frustrierter Bundesfinanzminister im Herbst 2008 vernehmen. »Die deutsche Wirtschaft muss stärker aus der Krise herauskommen als sie hineingegangen ist«, forderte die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung ein Jahr später. »Das dicke Ende kommt noch 2010«, sagten einige Experten mit Blick auf die zu erwartende Zunahme der Arbeitslosigkeit, während andere verkündeten, die Krise sei seit dem Sommer 2009 bereits überwunden: Man schaue doch nur auf die steigenden Aktienkurse und die bereits wieder Gewinne in Milliardenhöhe einfahrenden Banken.
Da tut das Buch von Winfried Wolf zur Krise des Kapitalismus einfach gut. Der Politologe hat im Verlauf der vergangenen beiden Jahrzehnte mehrere Bücher zu Krisen in der Weltwirtschaft geschrieben und analysiert die jetzige auf der Grundlage der marxistischen Krisentheorie. Für Wolf handelt es sich bei der gegenwärtigen um eine »weltweite Krise der kapitalistischen Produktionsweise«, die im Sommer 2007 im US-Immobiliensektor ausbrach, sich 2008 zur Finanzkrise erweiterte und die sich im Sommer 2009 in sieben Bereichen auswirkte. Wolf analysiert sie als Finanzkrise, als Krise der Realwirtschaft (anhand der Schlüsselindustrie Autoindustrie und der IT-Branche), als Verteilungskrise, gekennzeichnet durch sinkende Lohnquote und gleichzeitiger beschleunigter Reichtums-Konzentration, als Krise zwischen entwickelten und Entwicklungsländern (sogenannte »Nord-Süd«-Krise), als Hegemoniekrise (der USA gegenüber China und der Europäischen Union) sowie als Umwelt- und Klimakrise. Der Finanzkrise hat Wolf zwei, den anderen Krisenbereichen je eines von zehn Kapiteln des übersichtlich angelegten und tief gegliederten und mit aufschlussreichen Wirtschaftstabellen ausgestatteten Buches gewidmet. Hinzu kommt ein Kapitel, das die jetzige mit früheren Wirtschaftskrisen vergleicht.
Eingangs rekonstruiert Wolf den bisherigen Verlauf der Krise bzw. schildert die Rahmenbedingungen bei Krisenausbruch. Er analysiert den Ablauf der Finanzkrise in den USA, in Großbritannien und der Bundesrepublik, die drohenden Pleiten der Bank- bzw. Versicherungsunternehmen von AIG über Northern Rock bis Hypo Real Estate sowie die Rettungsaktionen der Regierungen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine spannende Darstellung. Wolf rückt einiges an Vorstellungen, die über die Medien zu uns kamen, zurecht: Die USA-Regierung (noch unter George Bush) habe die Rettung der Bank Lehman Brothers nicht einfach verschlafen und so die weltweite Krise überhaupt erst ausgelöst, sondern mit Kalkül eine Zickzack-Kurs verfolgt, d. h. das eine Unternehmen fallengelassen und anderen unter die Arme gegriffen.
Überhaupt korrigiert Wolf viele in den Medien verbreitete Einschätzungen und Wichtungen: Die IT-Branche sei von der Wirtschaftskrise mehr getroffen als die im Zentrum der Berichterstattung stehende Autoindustrie. Die Mehrzahl der Entwicklungsländer sei keineswegs der Krise weniger ausgesetzt als die großen westlichen Industrieländer. Die Preise für die meisten mineralischen Rohstoffe und Agrarprodukte sind seit Ende 2008 infolge des Nachfragerückgangs gefallen, der Welthandel drastisch zurückgegangen. Beides habe sich deutlich negativ auf die stark von Exporten abhängigen Entwicklungsländer ausgewirkt, zu denen auch und in besonderem Maße das subsaharische Afrika gehöre. Dies habe die sich aus dem Klimawandel ergebenden Probleme verschärft und die Zahl der unter Hunger leidenden – 2008/09 waren dies mehr als eine Milliarde Menschen – weiter ansteigen lassen.
China wird (neben Indien) gern als Beispiel genannt, dass zumindest die Schwellenländer der »Dritten Welt« von der aktuellen Weltwirtschaftskrise wenig betroffen sind. Chinas Wirtschaft wird auch 2009 mit sieben Prozent wachsen während die der USA schrumpft. Zurückzuführen sei dieses positive Ergebnis vor allem darauf, schreibt Wolf, dass Peking Ende 2008 das umfassendste Konjunkturprogramm der Welt aufgelegt hat. Ziel war es, die Krise auf den Weltmärkten auf diese Weise zu überbrücken und die fehlende Nachfrage aus dem Ausland durch eine massiv gesteigerte öffentliche Nachfrage auszugleichen. Erholt sich jedoch der Welthandel nicht rasch, dann müsste es ein neues Programm dieser Art geben, was, so urteilt Wolf »eher unwahrscheinlich ist«.
In einem dem historischen Vergleich gewidmeten Kapitel analysiert der Autor zunächst den »normalen« kapitalistischen Krisenzyklus der materiellen Produktion, der seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zu 25 Konjunktureinbrüchen geführt habe und verweist dann auf drei Weltwirtschaftskrisen von außerordentlichem Ausmaß: die von 1857, von 1873 und von 1929. Die lange Pause zwischen 1929 und 2009 erklärt er hauptsächlich aus der Existenz des »nichtkapitalistischen Blocks«, die in Nordamerika und Westeuropa einen Klassenkompromiss bewirkt habe, der zu sinkender Arbeitslosigkeit und steigenden Reallöhnen geführt hätte. »Mehrere Jahrzehnte lang gab es eine in Ansätzen funktionierende Regulierung des Finanzsektors, eine gewisse Eindämmung des reinen Prinzips der Profitmaximierung und in Zeiten drohender Krisen eine Keynesianische Wirtschaftspolitik«. Ob die aktuelle sich als eine vierte Krise dieser Art entpuppen werde, sei, so Wolf, noch nicht heraus. Jedoch: »Zunächst spricht auf rein ökonomischer Ebene einiges dafür, dass wir es – ähnlich wie 1930/31 – mit einem Zwischenhoch im Rahmen einer verallgemeinerten Krise zu tun haben.«
Unabhängig vom konkreten weiteren Konjunkturverlauf warnt Wolf davor »die Dinge ihrem kapitalistischen Gang zu überlassen«. Dann würden »sozial und politische katastrophale Folgen drohen – ein neuer flächendeckender Angriff auf soziale Standards, neue spekulative Blasen und Finanzcrashs und eine Ausweitung der Kriege um Öl und Energietransittrassen«. Deswegen müsse die Linke die Schockstarre, in der sie zu Beginn der Krise geraten sei, überwinden. Ein Krisenbekämpfungsprogramm sei erforderlich, dass an aktuellen Erscheinungen der Krise anknüpft und gleichzeitig perspektivisch auf eine andere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung orientiert. Für ein solches Programm stellt Wolf drei Forderungen zur Diskussion: Erstens muss der Bankensektor verstaatlicht und unter gesellschaftliche Kontrolle gestellt werden. Zweitens ist die durchschnittlichen Wochen- und Lebens-Arbeitszeit deutlich abzusenken, um genügend Beschäftigung zu schaffen. Und drittens sei ein Programm zur Umgestaltung und Neuausrichtung der gesamten Wirtschaft zu entwickeln und umzusetzen, in dessen Mittelpunkt ein »Alternative 3-K-Programm« stehen müsse: Investitionsprogramme für die Bereiche Kinder, Kultur und Klima.
Insgesamt handelt es sich um ein Buch, das ausgezeichnet informiert und auf dessen Grundlage sich um Gegenwarts- und Zukunftsfragen trefflich streiten lässt.
Winfried Wolf: Sieben Krisen. Ein Crash. Promedia Verlag Wien. 253 S., br., €17,90 €.
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