Massenhaft falsche Bescheide
2009 mehr als 355 000 erfolgreiche Widersprüche und Klagen gegen Hartz-IV-Post vom Jobcenter
Die soziale Spaltung vertieft sich – auch in der Bildungspolitik. Während immer mehr Schüler in Deutschland das Abitur ablegen, nimmt gleichzeitig der Anteil derer zu, die gar keinen Abschluss machen. Überwiegend stammen diese Schulversager aus sozial schwachen Familien mit Migrationshintergrund. Mittlerweile verlassen mehr als 10 Prozent eines Jahrganges die Schule ohne Abschluss, warnte Heinrich Alt von der Bundesagentur für Arbeit (BA) am Montag. Derzeit gelten in Deutschland rund 300 000 Jugendliche als arbeitslos. Die Hälfte von ihnen ist ohne Berufsausbildung und damit auch ohne Chance auf dem Arbeitsmarkt. Für viele wird Hartz IV so zum Schicksal. Anstatt eines Lohnbescheides erhalten die Betroffenen ihre Bescheide vom Jobcenter. Und diese sind oft falsch, wie am Montag wieder einmal deutlich wurde.
Nach Angaben der Bundesagentur gingen im vergangenen Jahr mehr als 162 000 falsche Bescheide an die Betroffenen. Wobei die Dunkelziffer höher sein dürfte, weil viele Langzeitarbeitslose die oft komplizierten Sachverhalte nicht verstehen oder ihre Rechte nicht kennen. Wie es in dem BA-Bericht weiter heißt, seien 2009 rund 37 Prozent der Widersprüche gegen Bescheide vom Amt erfolgreich gewesen. Insgesamt hätten mehr als 800 000 ALG II-Bezieher Widerspruch eingelegt. Das heißt: Eigentlich waren mehr als 300 000 Bescheide nicht korrekt. Zudem klagten 55 800 Hartz-IV-Bezieher erfolgreich vor einem Sozialgericht gegen falsche Bescheide. Selbst wenn man bedenkt, dass die Jobcenter im Jahr 2009 rund 25 Millionen solcher Bescheide verschickten, bleibt die Fehlerquote hoch.
Eine BA-Sprecherin erklärte am Montag: In fast jedem zweiten Fall seien die Fehler darauf zurückzuführen, dass sich die Lebenslage des Hartz-IV-Beziehers geändert habe, Unterlagen nachgereicht worden seien oder sich die Rechtslage verändert habe.
Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Sabine Zimmermann, meinte hingegen: »Aufgrund der Kompliziertheit ist das Hartz-System für die Betroffenen und die Beschäftigten in den Grundsicherungsstellen gleichermaßen undurchsichtig.« Die zahlreichen Gesetzesänderungen der verschiedenen Bundesregierungen hätten »diesen Murks nur verschlimmert«, so Zimmermann.
Dieser »Murks« dürfte sich demnächst noch verschlimmern. Etwa durch den Vorschlag des Bundesarbeitsministeriums, wonach die Kommunen zukünftig selbst festlegen sollen, welche Mietkosten sie Hartz-IV-Betroffenen zahlen.
Der Präsident des Deutschen Mieterbundes, Franz-Georg Rips, befürchtet das Schlimmste: Wenn der finanzielle Druck auf Städte und Gemeinden weiter zunehme, so Rips am Montag, bleibe diesen nichts anderes übrig, als die Bestimmungen eng auszulegen und die Ansprüche der Betroffenen zu beschränken. Nach den angekündigten Kürzungen beim Wohngeld würden abermals einkommensschwache Haushalte belastet, kritisierte der Verbandspräsident.
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