Von Kanecy nach New York und zurück
Die weltgewandte Sorbin Milena Vettraino soll das kulturelle Herzstück ihres Volkes retten
Der Eulenturm wirkt wie ein Museum. An den Wänden stapeln sich in Regalen alte Vulkanfiber-Koffer. Vergilbte Etiketten erinnern daran, wo sich die Hauben der Chordamen befinden, wo die Halstücher für Tänzer oder Requisiten für eine Weihnachtsinszenierung. An die Koffer heranzukommen, ist jedoch nicht einfach. Dicht gedrängt stehen Kleiderständer mit Hunderten Kostümen: Trachten mit bestickten Blusen und bunten Tüchern, blaue, verstaubte Uniformen mit goldenen Tressen. 58 Jahre alt ist das Sorbische Nationalensemble, dessen Fundus sich im Eulenturm befindet. Wer sich zwischen die Kleiderständer zwängt, gewinnt den Eindruck, es sei kein Kostümstück jemals weggeworfen worden.
Kostüme zur Auktion
Milena Vettraino hat sich Platz in dem geschichtsträchtigen Raum geschaffen. Die Frau, die bald seit 100 Tagen Intendantin des Nationalensembles ist, soll fotografiert werden. Sie nimmt ein Trachtenkleid vom Bügel, greift dann nach einem schlichteren Kostüm. Während der Fotograf sie in gutes Licht zu setzen sucht, lässt sie den Blick über die Gewölbedecke schweifen, die Treppe mit dem geschnitzten Handlauf und die Eulenskulpturen an den Wänden. Ihre Augen hinter der randlosen Brille leuchten: Ein Restaurant müsste hier eingerichtet werden! Ein Raum, in dem Sponsoren nach Aufführungen ihre Gäste empfangen und den die Besucher mieten können! Und die Kostüme? »Eine Auktion!«, lacht Vettraino: Zuerst können sorbische Laiengruppen ihren Fundus auffüllen, dann darf jeder etwas aussuchen. Sie selbst, sagt die Frau im geschmackvollen lindgrünen Kostüm, würde auch fündig werden.
Wer Vettraino an diesem Tag in der Schatzkammer des Ensembles erlebt, wird das Gefühl nicht los, dass mit ihrer Berufung Mitte Mai ein Fenster geöffnet wurde, durch das nun der Wind hereinbläst. Es ist eine Art Wind, der das Zeug hat, alte Kostüme zum Tanzen zu bringen, der Notenblätter durcheinanderwirbelt und Türen schlagen lässt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Dinge zu Bruch gehen. Die Luft in den alten Räumen aber wird nicht mehr muffig sein, wenn der Wind hindurchgefahren ist. Sie fährt vielmehr scharf in die Lungen und frisch in den Kopf.
Freilich: Die Idee einer Kostümauktion soll nicht den Eindruck erwecken, hier werfe jemand um einer fixen Idee willen mit leichter Hand die Traditionen des Ensembles fort. Vettraino weiß um die Geschichte und Bedeutung des Sorbischen Nationalensembles; die renommierte Hornistin verdankt ihm schließlich den Beginn ihrer künstlerischen Karriere. Als Zwölfjährige spielte sie im Bautzener Festsaal »Krone« erstmals mit dessen Orchester und erlebte verblüfft, »welche Wucht die Musik bekam«. Fachleute im Publikum waren angetan. Das Mädchen, das bis dahin im sorbischen Dorf Kanecy gelebt hatte, wurde zur Spezialschule geschickt und studierte in Dresden. Es folgte eine beachtliche Karriere: Sie gewann Wettbewerbe, spielte mit dem New York Chamber und dem World Youth Orchestra, in Genua und Dänemark, in Essen, Münster und beim Saarländischen Rundfunk. »Viel mehr«, sagt Vettraino, »wäre nicht zu erreichen gewesen.«
Und nun hat diese Musikerin, die aus der DDR wegging, weil eine ihre Laufbahn bedrohende Augenkrankheit dort nicht geheilt werden konnte, das Horn in die Ecke gestellt. Große Konzertsäle hat sie gegen ein Büro mit Blick auf die Stadtmauer und die Wasserkunst von Bautzen eingetauscht – und eine Aufgabe, um die sie kaum jemand beneiden dürfte: Sie soll das Sorbische Nationalensemble retten. Eine Truppe, die zuletzt mehrfach vor dem finanziellen Aus stand und im Mai von der Stiftung für das sorbische Volk einen rigiden Sparplan verordnet bekommen hat: Von 107 Stellen in Chor, Orchester und Ballett sowie Verwaltung sollen 27 gestrichen werden; der Etat schrumpft auf vier Millionen Euro im Jahr, 900 000 weniger als bisher. Auf Mitgefühl und Einsicht bei ihren Mitarbeitern darf Vettraino kaum hoffen – obwohl sie im Gegensatz zu ihrem Vorgänger eine Sorbin ist.
Bange aber scheint der 41-Jährigen trotz der Schwere der Aufgabe nicht zu sein. Auf die Frage, ob sie dieser gewachsen sei, erzählt sie eine Anekdote: Zwei Stunden vor einem Auftritt ihres Bläserquartetts sprang ein Sponsor ab; 2000 Euro fehlten. Vettraino telefonierte eifrig, zehn Minuten vor Konzertbeginn war die Lücke geschlossen. »Damit war meine Aufgabe erledigt, Spielen hätten die anderen allein gekonnt.« Die junge Frau, die, wie sie sagt, schon immer gern organisierte, erwarb in Salzburg einen Abschluss als Kulturmanagerin, arbeitete als Managerin unter anderem für das German Horn Ensemble und stellte mit finanziellen Problemen kämpfende Gruppen in Dänemark oder Polen wieder auf ein solides Fundament. In der Arbeitsgruppe, die ein neues Konzept für das Nationalensemble entwickeln sollte, war sie Mitglied: »Also kann ich doch«, sagt sie, »nicht davonlaufen, wenn es an die Umsetzung geht.«
Zu wenige Tänzer
Vettraino weiß freilich, dass es sich um eine andere Herausforderung handelt als die Sanierung eines kleinstädtischen Dreisparten-Hauses. Das Nationalensemble ist das kulturelle Aushängeschild der slawischen Minderheit, der Ort, an dem dessen Traditionen in der musikalischen Hochkultur am Leben erhalten werden, die Truppe, die als dessen Botschafter in Gegenden auftritt, in denen kaum jemand etwas über die Sorben und ihre Geschichte weiß. Der Anspruch ist groß, die Möglichkeiten werden immer bescheidener. Etliche traditionelle Choreografien oder Werke von Komponisten wie Korla Awgust Kocor können nicht mehr aufgeführt werden, weil das Ensemble spätestens mit der anstehenden Sparrunde nicht mehr genügend Tänzer und Musiker hat.
Der neuen Intendantin muss nun das Kunststück gelingen, mit weniger mehr zu erreichen. Sie setzt dafür auf die Sprache, jenes Element, über das sich die Sorben am stärksten definieren. Vettraino, die in Kanecy erst ab der zweiten Klasse Deutsch zu lernen begann und mit ihren beiden Kindern auch an ihrem letzten Wohnort Köln nur Sorbisch sprach, weiß, wie wichtig es ist, die Sprache am Leben zu halten und zu zeigen, dass sie nicht nur in alten Liedern und Büchern lebt. Also steht in ihrer ersten Saison unter anderem eine Ehrung für den Komponisten Bjarnat Krawc-Schneider im Spielplan, der im Februar vor 150 Jahren geboren wurde und für seine Kunstlieder bekannt ist. Deutschsprachige Musicals wie in den letzten Jahren wird das Ensemble dagegen nicht mehr aufführen. Und in dessen Büros wird auch wieder Sorbisch gesprochen.
Außerdem will Vettraino mehr Kontakte zwischen ihren Musikern und den zahlreichen Laiengruppen knüpfen und mehr Kinder ins Ensemble locken, zum Beispiel mit Familienkonzerten, bei denen die jungen Besucher nicht nur zuhören, sondern mitsingen und -spielen sollen. Ein wichtiger Teil des Konzeptes für das Nationalensemble ist die Gründung einer Akademie, um den Nachwuchs besser fördern zu können. Sie soll im Herbst 2011 eröffnet werden.
Ob es mit derlei Ideen gelingt, das traditionsreiche Haus zu stabilisieren, bleibt abzuwarten, zumal die sorbische Kulturlandschaft insgesamt unter großem Druck steht. Weil die Geldgeber der Stiftung – der Bund, Sachsen und Brandenburg – auf Sparsamkeit drängen, werden Pläne wie der geboren, die Verwaltung des Nationalensembles, des Domowina Verlags und des Witaj-Sprachzentrums in einer Kultur-GmbH zu bündeln. Sie stoßen auf Widerstand sorbischer Künstler. Einen Protestbrief haben zahlreiche Künstler, Wissenschaftler und Journalisten unterschrieben, so der 72-jährige Schriftsteller Kito Lorenc. Auch Politiker der LINKEN sehen die Strukturdebatte um die Kultureinrichtungen in einer »Schieflage«.
Plädoyer fürs Wandern
Vettraino hat zunächst drei Jahre Zeit zu beweisen, dass ihre Ideen fruchten – und dass sie in der weiten Welt etwas Nützliches gelernt hat. Denn sie ist auch ein seltenes Beispiel für eine Sorbin, die nicht nur weggezogen ist aus ihrer Heimat, sondern die zurückkam. Die verbreiteten Klagen über die fatalen Folgen der Abwanderung kann sie verstehen; Weltläufigkeit aber hält sie für ausgesprochen nützlich: »Jeder Müllerbursche, heißt es in der Kunst, muss wandern.« Von ihrem Wissen und den Kontakten, die sie in der Welt geknüpft hat, sollen nun die Sorben profitieren können. Auch die Bande zwischen namhaften ausgewanderten Sorben und der Heimat will sie enger knüpfen – zur Schauspielerin Gabriele-Maria Schmeide, die in dem Film »Die Friseurin« brillierte, oder zum Trompeter Rainer Ziesch. Vielleicht spielt dieser ja irgendwann sogar ein Kammerkonzert – in einem sorbischen Theaterrestaurant im Eulenturm.
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