Gesellschaft eigenen Rechts

Einige sehr einseitige Bemerkungen zum baldigen Beginn der neuen Theatersaison

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Regisseur Peter Stein sagte in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, er könne Shakespeare nicht inszenieren, indem er die Gestalten in Unterhosen herumlaufen lasse«.

In dem Satz drückt sich einmal mehr ein großbürgerliches Verlust-Empfinden im Kulturbetrieb aus; Stein entzündet sich am so genannten Regietheater. Bald beginnt die neue Theatersaison, und wieder werden Regisseure einem Verständnis von Theater folgen, aus dem ihnen eine einzige Pflicht erwächst: Störung des gewohnten Blickwinkels, ästhetischer Erfahrungsschock, Suche nach dem, was im toten Text eine heftige, im Punkt aufgleißende Verknüpfung mit gegenwärtigen Zustandsberichten ermöglicht. Theater, das Lessing, Wedekind, Büchner sagt, aber dies unerbittlich im Präsens, und das bedeutet: klassischen Text nicht zu nehmen wie einen Kanon, sondern ihn im Kontext des besagten Heute mit jeder Inszenierung neu zu erfinden. Es gibt ja nicht »den« feststehenden Sinn eines Stücks, es gibt im Verstehenwollen immer nur die Fähigkeit zum Fragment. »Muss man«, so der

Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann, »daran erinnern, dass auch ein Stück von Shakespeare seit Nietzsche, Freud und Marx gedacht werden muss als höchst prekäre Balance widerstreitender Motive, nur eben gerade noch vorm Auseinanderfallen bewahrt?« Theater sei also »nicht Medium des Textes, sondern Kunstausübung eigenen Rechts«.

Aufführungen sind Gebilde, die mit dem Material Zeit arbeiten, mit Dauer und Kürze, mit Beschleunigung, Verlangsamung und Wiederholung. Also: auch der Formung von Textmaterial. Und unbestreitbar ist doch die Lebendigkeit manches Klassikers auf dem Theater »nur« Ergebnis der Mühe und der klugen, radikalen Lust, ihn immer wieder neu den Tiefen- wie Oberflächen-Zumutungen eines jeweiligen politischen, kulturellen Wandels auszusetzen

Theater ist diskussionsuchende Zeitgenossenschaft, das muss ein Text ertragen, oder er ist nicht spielbar. Immer ist es Bravheit, die tötet. Bravheit, Unberührtheit ist die Aura der Bibliotheken und Museen, nicht der Theater.

Es gibt Regieschandtaten, ja, es wird sie immer geben, weil Talent nicht in Massenorganisationen verteilt wird – der deutsche Theaterbetrieb jedoch Massenproduktion ist, auf einem emsig fressenden und ebenso emsig spuckenden Markt. Aber die deutsche Theaterlandschaft ist doch mitunter deshalb ein hässlich greller Schrei, weil sie die Verwahrlosung an bourgeoisem Selbstbewusstsein ebenso inständig, unbeirrt und auffällig auf die Bühnen holt wie jene reale Verwahrlosung unterm Kennzeichen von Armut und Perspektivlosigkeit.

Das Blut der Gewaltorgien, die Brutalität des Misshandelns, der Frost der Entfremdung – wer in den letzten Jahren Inszenierungen von Castorf oder Kušej, von Thalheimer oder Lösch, von Bischoff oder Gotscheff, von Bieito oder Konwitschny, von Perceval oder Ostermeier sah, der erfuhr von dem, was Hegel jenes »unglückliche Bewusstsein« nannte, das einer »entzweigebrochenen Wirklichkeit« entspricht. Wenn ich einen Generalsekretär der CDU sehe, wünsche ich mir einen Kunstblutbeutel von Thalheimer. Wenn ich einen Generalsekretär der SPD erblicke, wünsche ich den Kartoffelsalatwürfen Castorfs unbedingte Renaissance. Ist sie nicht ehrlicher Wahrnehmung am Ende der Utopien geschuldet, diese Rückkehr zu Ausbrüchen des Expressionismus? Sollte sich Kunst nicht auch gegen die Beruhigungswünsche eines tempelsüchtigen Publikums wenden, das selbstleugnerisch im schönen Worte schwelgen möchte?

Vielleicht bestünde ein anderes Theater, wenn wieder diejenigen zum hauptsächlichen Publikum würden, die man aufrichten muss. Den Besserverdienenden aber muss man nicht aufrichten. Man sollte ihn durchaus mal in den (lediglich gespielten, künstlich hergestellen!) Schmutz stoßen, auf die Welt also, und ihm vorher noch gehöriges Eintrittsgeld abnehmen.

Provokation hat noch zeitgemäßen Sinn, wenn sie dem betuchten Zuschauer erzählt, dass Theater, im Sinne Shakespeares, »Spiegel der Zeit« ist: diese Zeit ist aus den Fugen bürgerlichen Maßes. Diese Welt, deren unbestreitbar großer Wert das Gemäßigte und Nichtanarchische ist, hat angesichts ihrer Defizite so wenige Möglichkeiten, aus der Haut zu fahren und trotzdem bei sich zu bleiben. Vielleicht ist Theater noch eine letzte dieser Möglichkeiten. Dem Bürger – umgeben von so viel Schein und falschem Glanz, von der Werbung bis zur Politik – möge solches Theater weiter Unwohlsein bereiten. Wer es annimmt, benötigt, zur Aufrauung des eigenen Gewissens sucht, der rettet die Welt zwar auch nicht, aber vielleicht sich selber, für Momente jedenfalls eines wach machenden Erschreckens. Wie weit wir von hohem, hehrem Geist entfernt sind. Dessen Zeit kommt. Geschützt liegt es tief in den Texten der Großen.

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