Die dritte Bannung
Sabrina Janesch zwischen Deutschland, Polen und der Ukraine
Als er auf den verlassenen Hof in Niederschlesien kam, nach langer Fahrt im Viehwagen, bei der er fast erstickte, hatte er sich aus der dunklen Scheune heraus beobachtet gefühlt. Zwei gelbe Augen. In der Nacht sah er im Garten eine Gestalt hocken – groß mit pechschwarzem Schwanz. Jesus Christus!, schrie er, da sei das Ding verschwunden. »Das sei der Fluch gewesen, der über den Katzenbergen lag«, sagte Großvater Janeczko. – Nele Leibert, seiner Enkelin, fällt das wieder ein, als sie sich in dem Haus zu Bette legt, wo alle Uhren angehalten, alle Spiegel abgehängt worden sind. Seit ein paar Stunden ist ihr Djadjo unter der Erde. In seinem frisch bezogenen Bett schläft sie lange nicht ein. »Als Kind habe ich immer so gelegen, versteckt unter einem Daunenberg, damit das Biest mich nicht fand.«
Sabrina Janesch, geboren 1985 in Gifhorn, hat in Hildesheim Kulturjournalismus und Kreatives Schreiben und in Krakau Polonistik studiert. Wie die Nele im Buch hat sie eine polnische Mutter und einen deutschen Vater. Da scheint sie auch der eigenen Herkunft auf der Spur, dieser Doppelexistenz, in Polen als Deutsche und in Deutschland als Polin zu gelten. Aber Nele ist mit der Autorin natürlich nicht eins zu eins zu setzen. Manches wird wohl auch erfunden sein in diesem kraftvoll erzählten Roman. Da tritt eine 25-Jährige, erstaunlich reif, in die Literatur ein. Leser dürfen von ihr noch viel erwarten. Sabrina Janesch hat eine Geschichte zu erzählen, die im Persönlichen Welt zu spiegeln vermag. Und sie versteht, sie so darzubieten, dass man voll Spannung weiterlesen möchte, um zu erfahren, wie es Nele ergeht und wie es dem Großvater erging. Er hat ihr manches anvertraut, woran sie nun denkt. Aber nicht alles, wie sich herausstellt. Andeutungen ihrer Verwandten lassen sie ahnen: Es muss in seinem Leben ein dunkles Geheimnis gegeben haben, einen Bruder, der verschwand. Den er womöglich auf dem Gewissen hat?
Ach Djadjo, Djadjo. Ohne die Liebe der Enkelin würde sich in diesem Buch nichts bewegen. Neles Gegenwart und des Großvaters Vergangenheit schieben sich inein-ander, schmiegen sich weich aneinander an, denn diese junge Frau hat gute Augen im doppelten Sinn. Sie versteht zu beobachten – der Roman lebt vom farbigen Detail – und sie sieht mit dem Herzen. In sich selbst will sie ihren Djadjo am Leben erhalten. Aber dazu muss sie alles von ihm erfahren. Also reist sie nicht zurück nach Berlin, wo ihr Freund auf sie wartet, sondern weiter gen Osten – ins ukrainische Dorf Zastavne, das einstige Zdzary Wielkie, von wo Janeczko einst aufgebrochen war ...
Ostgalizien, das seit 1919 polnisch war, wurde im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs der Ukraine zugeschlagen. So wie die Deutschen aus Westpolen wurden dort die Polen ausgesiedelt. Wie kam ich bloß darauf, mir das einigermaßen friedlich vorzustellen. Als ob sich die Bauern von dort mit der Aussicht auf die von den Deutschen verlassenen Höfe und Felder freiwillig auf den Weg gemacht hätten. Nein, freiwillig, so habe ich mir das nicht gedacht. Aber dass es eine richtige Vertreibung war, bei der Ukrainer auf die Polen losgingen, die meist nur ihr Leben retten konnten oder nicht mal das, hatte ich mir nicht vor Augen geführt. Dabei geschah und geschieht solches doch immer wieder, wenn es Machtinteressen gibt, verschiedene Volksgruppen gegeneinander zu hetzen.
»Großvater sagte, die Überquerung des Bugs sei die einzige Rettung gewesen.« Im Nachthemd sei er aus dem Dorf geflohen, hatte sich über Stunden in einem Weizenfeld versteckt. Lebte seine Frau noch? Schüsse knallten. Und selbst später, als er in einen Zug gen Westen verfrachtet worden war, dachte er, das sei nur auf Zeit. »Jest tam ktos«, ist da wer, rief er, als er vorsichtig den verlassenen Hof in Schlesien betrat. Auch den anderen Männern ging es so, dass sie noch lange unsicher waren, ob es sich lohnte, Hand anzulegen, ob die einstigen Besitzer nicht zurückkommen würden.
Herumgestoßene – geradezu gespenstisch ist, was ihnen widerfährt. Nele taucht tief in diese Schicksale ein und – das ist ein Kunststück von Sabrina Janesch – bleibt dennoch sie selbst. Was da einmal war zwischen Polen, Ukrainern und Deutschen, sie will es bis ins Einzelne wissen, und wissen heißt natürlich auch werten. Aber es ist eine vergangene Zeit, viel widersprüchlicher, wirrer, als es sich Nachgeborene überhaupt vorstellen können. Und dann sitzt sie in einem ukrainischen Haus, freundlich empfangen, kann ihre Fragen stellen ...
»In meinem Kopf hörte ich den Tonfall, in dem Djadjo sagen würde: Mädchen, kämpf mit deinen eigenen Dämonen. Mir fiel erst jetzt, nach seinem Tod, die Antwort ein: Was wenn Dämonen, wie Sprache oder Land, vererbbar sind?«
Sabrina Janesch erzählt, wie Nele diese Dämonen bannt. Eine Bannung hatte ja schon ihre Großmutter vorgenommen. Janeczkos Frau Maria hatte sich retten können, und sie kannte sich mit Geistererscheinungen aus. Auch sie hatte das Biest gesehen – zum letzten Mal, nachdem sie ihr Kind zur Welt brachte. Das war die zweite Bannung gewesen. Und Nele, ganz im Geist ihrer Vorfahren, vollzieht ebenfalls eine symbolische Handlung, ein Friedensritual. »Wer weiß das schon ... Vielleicht ist jetzt wirklich alles gut.«
Sabrina Janesch: Katzenberge. Roman. Aufbau Verlag. 273 S., geb., 19,95 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.