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Happyend mit Heiratsantrag
Erfolgsautor Jorge Bucay aus Argentinien feiert sich selbst
Demian – Arzt und Dozent aus Buenos Aires – ist ein intelligenter, offener Mensch. Manchmal allerdings hat er es schwer mit sich. Vor Jahren suchte er sich deshalb professionelle Hilfe. Sein Psychiater – Jorge, genannt der Dicke – erwies sich als gemütvoller, etwas durchtriebener Herr reiferen Alters. Er duzte seinen Klienten; das sorgte rasch für Nähe. »Patient« zu sein, bedeutet »geduldig« zu sein, und tatsächlich, Geduld brauchte es für das Behandlungsmenü, das aus den immer gleichen Ingredienzien bestand. Der Dicke setzte sich im Schneidersitz in einen »fürchterlichen blauen Polstersessel«, sah Demian in die Augen – dann erzählte er: Geschichten mit Aha-Effekt, von Menschen und menschengleichen Tieren in bizarrer Situation. Jede Menge wegweisender Weisheiten. Die Therapie half seinerzeit; Demian verlor den Dicken später aus den Augen.
Nun, fast vierzigjährig, steckt Demian wieder in einer Sackgasse. Als Mediziner ist er zwar erfolgreich, bei Frauen kommt er gut an, doch das Leben entgleitet ihm. Midlife-Crisis. Er spürt eine »seltsame innere Leere«, ist unfähig, das Dasein zu genießen. Seine Ehe zerbricht. Eine Geliebte (Ludmila, Studentin) gibt ihm den Laufpass. Auf einer Busfahrt lernt er Paula kennen (Mandelaugen, maurische Züge), diesmal will Demian alles richtig machen. Wer könnte helfen? Der dicke Jorge. Doch der Gestalttherapeut ist fortgezogen. Demian muss ihn suchen, finden, überreden. Dann aber wird alles so schön, wie es damals gewesen ist: Jorge vermittelt Geborgenheit, erzählt Storys (gut drei Dutzend Parabeln), die gut tun wie eine Wellness-Kur. Ein paar dieser Gleichnisse hat der dicke Jorge erfunden, die meisten indes stammen aus dem Fundus der Weltliteratur. Etwa die Geschichte vom kleinen Prinzen und dem Säufer. Oder die von Nasruddin und dem Esel. Nach einiger Zeit ist der promovierte Patient wieder geheilt, Demian und Paula finden sich: Happyend mit Heiratsantrag.
Ein wenig Sufi und ein wenig Saint-Exupéry, ein paar Märchen, verfremdete Fabeln: In seiner psychiatrischen Praxis war der Gestalttherapeut Jorge Bucay (Jahrgang 1949) damit sehr erfolgreich – so daß er sich vor Kundschaft kaum retten konnte. Was lag bei derartigem Zuspruch näher als eine Zweitverwertung der therapeutischen Idee? Auf dem Literaturmarkt herrscht Nachfrage nach sinnstiftenden Stories. So wurde auch der Schriftsteller Jorge Bucay rasch populär. In Lateinamerika und Spanien landeten seine Bücher auf den Bestsellerlisten.
«Zähl auf mich«, das neunte Werk des Erfolgsautors, ist eine Fortschreibung seines Prosabandes »Komm, ich erzähl dir eine Geschichte« (deutsch 2005) – dieselben Protagonisten, identischer Aufbau, gleiche Erzählstrategie. Auch in Stärken und Schwächen ähnelt »Zähl auf mich« dem Vorgängerband: Der Ich-Erzähler wirkt sympathisch (so ein netter TV-Serien-Arzt), die Geschichte tröstlich (ein Mann wird geheilt). Die eingestreuten Storys – manche von ihnen etliche Buchseiten lang – sind leichtverdauliche Kost. Eine Sammlung freundlicher Botschaften. Ein Lebenshilfe-Ratgeber. Das Kleine Einmaleins der Psychologie, als Prosa getarnt und vom Verlag wie große Literatur verpackt.
Literatur? Demians Stil irritiert, diese mit Klischees verkleisterte Soap-Sprache. Als der Held seine Paula das erste Mal sieht, rutscht ihm im Bus »das Herz in die Hose«, derweil sie sich – ein Buch von Jorge in der Hand, was für ein Zufall! – gerade »brennend« für Gestalttherapie interessiert.
Gestalttherapie, tatsächlich: In der Figur des dicken Jorge feiert sich der Autor selbst – ein erfolgreicher Psychiater, beleibt und humorvoll; ein Weiser, zu dem selbst die Klugen als Bittsteller kommen. Vergleichbare Heilsgeschichten kennt man von Paulo Coelho aus Brasilien. Als Unternehmer auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit agiert der Argentinier jedoch noch geschickter: Von Buch zu Buch perfektioniert Bucay sein so eigentümliches wie einträgliches Crossover-Geschäft – zwischen Jorge, dem Therapeuten, und Jorge, dem Literaten.
Jorge Bucay: Zähl auf mich. Aus dem Spanischen von Stephanie von Harrach. Ammann Verlag. 352 S., Leinen, 19,95 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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