Suchmeldungen kann man in Zeitungen aller Tage lesen. Denen ist nur bruchstückhaft zu entnehmen, was hunderten Eltern in der Bundesrepublik zu schaffen macht: Ihre Kinder sind einfach abgehauen.
Bitte helfen Sie mir.« Hilferufe dieser Art sind auch bei ND an der Tagesordnung. Doch meist geht es um veröffentlichte Beiträge, Vermittlung von Kontakten, Adressen, Telefonnummern. Lebenshilfe im weiteren Sinne also. Selten um so unmittelbare, wie in der e-mail von Gabriela L. aus Rostock. Die Mutter dreier Kinder sucht seit Ende Januar ihren Sohn Martin. Den 15-Jährigen vermutet sie in Berlin. Dahin ist er nicht zum ersten Mal verschwunden. Doch niemals so lang wie jetzt. Bei den »Abgängen« zuvor haben Familie und Nachbarn Martin über Computerrecherche in Berlin gefunden - und von dort wieder nach Hause geholt. Damit ihnen dies per zurückverfolgter e-mail nicht erneut gelingt, verschwand der Schüler diesmal gleich samt der Festplatte seines Rechners in Richtung Hauptstadt.
Überhaupt Computer. Martin saß zuletzt zu Hause von früh bis abends und surfte im Internet - vergaß dabei die Schule und lebte in einer anderen Welt. All seine sozialen Kontakte stellte der Einzelgänger per Tastatur her - während er gegenüber der Familie und den Freunden immer einsilbiger wurde. Dass die mehrere hundert Mark ausweisenden Rechnungen für die virtuellen Reisen des Nachzüglers die Mutter und deren Lebensgefährten nicht gerade froh stimmten, ist nachvollziehbar - und hat für manche Auseinandesetzung im Hause L. gesorgt. Ausgerechnet vor dem Stein solcher weniger schönen Anstöße - dem Computer - wartet jetzt seit Wochen ein Osternest auf Martin. Aber davon weiß er nichts.
Hunderte Kinder sind dauervermisst
Ein Einzelfall ist der junge Hansestädter nicht. Laut Bundeskriminalamt waren mit dem Stichtag 6. Mai in der Bundesrepublik 968 Kinder bis zu 14 Jahren und noch einmal 1216 in der Altersgruppe der 15- bis 18-Jährigen vermisst gemeldet. Anfang April bei der letzten Erfassung waren es 919 Kinder und 1124 Jugendliche. Die Erfahrungen der Spezialisten sagen, dass die meisten von ihnen nach kurzer Zeit wieder auftauchen - zu Hause, bei Freunden und Bekannten oder in einer Jugendbetreuungseinrichtung. Das allerdings ist - zumindest wenn man die Such-Anzeigen im Internet genauer betrachtet - offenbar nur punktuell richtig. Hier sind Bilder verschwundener Kinder und Jugendlicher, deren Spuren sich seit Jahren verloren haben, nicht eben Mangelware. Die einen sprechen von 700 bis 800 Langzeitvermissten, auf einer Vermissten-Internetseite ist gar von 900 Kindern die Rede, die in Deutschland als dauervermisst gelten. Nur ahnen lässt sich, was dies für die meisten der betroffenen Eltern bedeutet, ist doch ein Verbrechen nie auszuschließen. Doch selbst, wenn junge Leute nur einfach so abhauen, ist die Angst der Mütter und Väter groß.
Wie bei Gabriela L., die sich wieder einmal die Tränen aus dem Gesicht wischt. Die kleine drahtige Frau, die in dieser Woche 41 geworden ist, glaubt sicher, der Sohn steckt in Schwierigkeiten - zu oft hat schon in den vergangenen Monaten in der Nacht das Telefon geklingelt und sich dann doch niemand gemeldet. Das ist ihr so gegangen, das ist Martins Oma so gegangen. »Ich spüre, dass mein Kind Hilfe braucht«, sagt die gelernte Wirtschaftsgehilfin, die gerade eine zeitlich befristete Beschäftigungsmaßnahme des Arbeitsamtes hinter sich hat - und nun wieder an ihrem Küchentisch sitzt und den ganzen Tag auf Martin wartet. In den Nächten sieht sie ihren Sohn - »von irgendetwas muss er doch leben« - mal in einer Drückerkolonne, mal als Straßendieb, mal auf dem Strich, bloß nicht auf Drogen, denn »dagegen hatte Martin immer schon was«.
Dass ihr Sohn sich mehr zu Männern denn zu Frauen hingezogen fühlt, hat Gabriela L. nur anfangs geschockt. Ihre Tochter allerdings sagt, Martin habe sich nach seinem Outing in der Familie nicht verstanden gefühlt, sei noch mehr in sich und die Internet-Welt gekrochen und habe Bekanntschaften in der Ferne gesucht. Und überdies, weiß die 21-Jährige, sei es in Rostock nahezu unmöglich, dass zwei Jungen als Paar miteinander durch die Straßen zögen. Schon gar nicht im Plattenbaugebiet, in dem die Familie wohnt. Das allerdings, so ergab jüngst eine Studie, ist nicht nur ein Problem an der Warnow. Nach der Umfrage unter 669 Jungen und Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren lehnen 61 Prozent der Jugendlichen Schwule und Lesben ab - bei den männlichen Befragten sind es sogar 71 Prozent. Martin hat den Druck und die Spötteleien der Altersgenossen wohl als unerträglich empfunden - und sich in die Anonymität oder womöglich auch erhoffte Toleranz der Großstadt geflüchtet.
Das genau aber ist seiner Mutter suspekt. Die Heimatstadt erscheint ihr immer noch übersichtlich. Im Gegensatz zu Berlin, wo sie - sicher nicht grundlos, wenn auch ziemlich diffus - an allen Ecken und Enden Gefahren für ihren Sohn vermutet. Aber »Berlin ist hipp, hat Martin immer wieder gesagt« und war im für ihn öden Rostock nicht zu halten.
Außerdem habe er, so sagt Frau L., Probleme in der Schule gehabt, und nicht nur, weil die Zahl der Fehlstunden exorbitant gestiegen war. Die Folge sei noch größere Isolation gewesen. Das Bündel all dessen habe ihn fortgetrieben, sagt die Mutter, weil ihr andere Erklärungen fehlen. Das kann ein Versuch einer Selbstberuhigung sein. Muss aber nicht. Gerade nach dem Amoklauf im Erfurter Gutenberg-Gymnasium weisen Politiker wie Pädagogen verstärkt auf Fehlstellen in der psychologischen Betreuung von Jugendlichen an den Schulen hin. Der Bundeselternrat beispielsweise hat als Konsequenz aus Erfurt gefordert, Psychologen und Sozialarbeiter als Berater an den Bildungseinrichtungen einzustellen, um Störungen und Auffälligkeiten junger Menschen frühzeitig zu erkennen und Eskalationen zu vermeiden - und vergleichsweise auf Skandinavien verwiesen, wo schon länger Sozialarbeiter als Bindeglieder zwischen Schülern, Eltern und Lehrern fungieren.
Bildungsforscher Wolfgang Edelstein, selbst früher einmal Lehrer, sprach in der Wochenzeitung »Die Zeit« von alltäglichen Schuldramen, die kaum die Aufmerksamkeit in Politik und Medien erregen. »Viele Schüler fühlen sich der Schule ohnmächtig ausgeliefert«, weiß er und auch, dass die Schüler darauf in der Regel nicht mit aggressiver Gewalt, sondern viel häufiger mit Schulangst und Depression reagieren, die in Einzelfällen bis zum Schülerselbstmord führen können.
Auch Martin hat davon schon gesprochen, erzählt seine Mutter. Sagt auch, dass sie in der Erziehung Fehler gemacht hat, dem Kleinsten gegenüber viel zu inkonsequent war und ihn beispielsweise beim Schwänzen der Schule deckte, statt ihm gehörig die Leviten zu lesen. Fest steht, gleich nach Martins Rückkehr will sich Gabriela L. um eine Familientherapie bemühen. Das Gespräch mit der Schule um eine Verlängerung nach Martins mehrmonatiger Auszeit hat sie schon geführt. Chancen für einen Neuanfang für den 15-Jährigen gäbe es also.
Hilfeleistung nicht gegen den Willen
Einmal in diesen letzten drei Monaten glaubte die Mutter ihren Sohn schon in Sicherheit, als sich aus Berlin ein Wohnprojekt meldete, bei dem Martin aufgetaucht war. Vom Kontakt Berlin-Rostock muss Martin Wind bekommen haben - nach zwei Tagen war er aus der Wilmersdorfer Jugendeinrichtung wieder verschwunden. Der dortige Leiter Uwe Weißgerber kann sich an den Jungen erinnern. Sagen will er zu dessen Motiven nichts. Stichwort: Schweigepflicht. In seiner Kontakt- und Beratungsstelle werden alle Hilfe suchenden Kinder betreut, die von außerhalb Berlins in die Hauptstadt kommen, »egal ob aus Konstanz oder Rostock«. Doch wer sich der Betreuung entzieht, wird nicht gezwungen.
»Gerade bei Kindern und Jugendlichen, die oft schon mit sehr großer Gewalterfahrung bei uns landen, können wir unsere pädagogischen und sozialen Hilfeleistungen nicht mit Gewalt durchsetzen«, erklärt Weißgerber den Ansatz. Da sei schon die Mitarbeit der Jugendlichen gefordert. Und Martin habe dies eben nicht geleistet. Wird sich also nun, »weil er das jetzt so will«, in die Schar jugendlicher Obdachloser einreihen, die in Deutschland mit mindestens 7000 beziffert wird.
Natürlich weiß der Mann aus jahrelanger Erfahrung der Streetworker, die ihm zur Seite stehen, dass das Straßenleben »als härteste Gangart gesellschaftlichen Lebens« schrecklich ist, nur aus kurzfristigen Zweckfreundschaften besteht, zum Verlust jedweden Stolzes führt, eine katastrophale Persönlichkeitsentwicklung nach sich zieht und Kinder und Jugendliche »in einer halbwegs intakten Familie viel besser aufgehoben« wären. Aber: »Wer sich unserer Betreuung entzieht, wird nicht gezwungen. Zu diesem Prinzip stehe ich.«
Gabriela L. sieht das anders, hält Weißgerber zumindest für blauäugig, wenn nicht für fahrlässig, weil er dem 15-Jährigen Ausgang gab, kaum dass er sich in der Einrichtung gemeldet hatte. Sie will dem Sohn notfalls auch gegen seinen Willen helfen. Ihr gehen sowohl Polizei wie auch die Jugendeinrichtung zu lax mit dem Verschwinden Martins um. Und auch die Gesetzgebung ist ihr ein einziges Rätsel. Wenn Martin 16 wird, so hat der Junge aufgetrumpft, könne er ohnehin allein entscheiden, wo er leben möchte. »Aber er hat keinen Schulabschluss und noch nicht bewiesen, dass er allein zurecht kommt«, sagt sie etwas hilflos und schielt schon wieder unruhig auf das Telefon.