Wenn alles »Kultur« ist
Auch seit – oder vielleicht weil? – es die noch verhältnismäßig junge akademische Disziplin der Kulturwissenschaften gibt, ist eine präzise Definition des Begriffs »Kultur« nicht einfacher geworden. Seit vor gut dreißig Jahren Hilmar Hoffmann, damals Kulturdezernent in Frankfurt (Main), seine Forderung nach einer »Kultur für alle« propagierte, die den Besuch eines Häkel- oder Töpferkurses der Volkshochschule ebenso unter Kultur subsumierte wie einen Theaterbesuch oder die Beschäftigung mit Literatur, wurde es geradezu schick, einer, wie das Schlagwort hieß, »Erweiterung des Kulturbegriffs« das Wort zu reden.
Zwar ist der Gebrauch dieser Floskel längst wieder aus der Mode, liest und hört man aber, welch inflationären Gebrauchs sich das Wort »Kultur« derzeit erfreut, scheinen die seinerzeitigen Begriffserweiterer, zumindest verbal, auf der ganzen Linie gesiegt zu haben.
Inzwischen ist die Rede von einer Kultur der Teilnahme, des Hinschauens, der Verantwortung, der Anstrengung, der Trauer, des Hinhörens, der Veränderung, der Erinnerung, des Willkommens, der Einschüchterung, des Leisespielens oder des Gebens und Nehmens. Da gehört »die Fehlerkultur in der Chirurgie heute zum Alltag«, es gibt eine neue Kriegs-, Stabilitäts-, Geschmacks-, Sicherheits- oder Fankultur, zu schweigen von der Kultur der Vertuschung, der Angst und der Denunziation, des Fundraisings, der Offenheit und der Selbstkritik. Bemerkenswert auch, wie es eine russische Frauenrechtlerin formulierte, »die Kultur der Vergewaltigung«.
Das sind alles, wenn auch längst nicht alle, Lese- und Hörfrüchte aus jüngster Zeit und Indizien für eine weitere Variante, nämlich einer Kultur des Missbrauchs des Begriffs Kultur. Denn: Wenn alles Kultur ist, ist nichts Kultur.
AUM
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