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Unter Rentnern

Peter Steins »Ödipus auf Kolonos« am Berliner Ensemble

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Kurz vor Spielbeginn wird ein Stuhl von der Bühne getragen. Der Stuhl ist das Hauptrequisit und steht vor einer niedrigen rotbraunen Mauer, hinter der einige buschige Zimmerpflanzen den heiligen Hain von Kolonos nahe Athen vorstellen. Sonst ist die Bühne leer und man schöpft Hoffnung.

Aber Minuten später ist der Stuhl wieder da, der alte blinde Ödipus, geführt von seiner Tochter Antigone setzt sich und wird in diesem 160-minütigen Sitzstück für Rentner den ewig gleichen Ton angeben. Bildungsbürgerlich gestimmt wie immer bei Peter Stein, der Theater nur noch für pensionierte Oberlehrer zu machen scheint. Das ist nicht schlimm als Gegenprogramm zu all der Dekonstruktion auf deutschen Bühnen, dem oft irrläufigen Regietheater, das nicht weiß, womit es noch provozieren könnte. Mit dem Text?

Man kann es Peter Stein zu gute halten, dass sich bei ihm immer alles um den Text dreht. Aber wie vergeblich das ist, wenn man diesen wie eine Monstranz vor sich herträgt, sieht man auch. Ohne szenische Brechung keine Deutung, ohne Deutung kein Theater. Dann lieber selber lesen. Es ist schon merkwürdig, dass ein so intelligenter Mensch wie Stein ernsthaft glaubt, mit jeglicher Deutungsabstinenz einem Werk gerecht werden zu können. Das ist der Irrglaube jeden Historismus, der meint, es gäbe eine reine Werkgestalt, die es zu bewahren gelte. Aber nach Walter Benjamin liest man nur etwas aus einem Text heraus, wenn man bereit ist, etwas von sich in ihn hineinzugeben. Und das passiert bei Stein schon lange nicht mehr. Eine Woche dauerte vor Jahren seine Faustgesamtinszenierung in der Berliner Arena, später spielte er alle drei Teile des »Wallenstein« hintereinander – und durfte darauf wetten, dass keine Zeile des Textes gestrichen war. Da war ein Pedant am Werke. Wohin das führt, sieht man in seiner Inszenierung von Kleists »Der zerbrochene Krug« ebenfalls am BE. Peinlich hausbackene UFA-Ästhetik.

Sein Hauptdarsteller seit »Wallenstein« ist Klaus Maria Brandauer. Brandauer hat sich mit Filmen wie István Szabós »Mephisto« und »Oberst Redl», auch mit Bernhard Wickis »Das Spinnennetz« (an der Seite von Ulrich Mühe) in unser Gedächtnis eingebrannt, auch weil ihn diese starken Regisseure dazu zwangen sich zurückzunehmen. Stein und Brandauer aber sind sich gegenseitige Unglücksfälle. Brandauer, mit seinem unseligen Drang zu gefallen und sich beim Publikum mit aller Penetranz anzubiedern und Stein, der seinen Hauptdarsteller machen lässt, weil sonst das ganze umfängliche Textaufsagen doch zu langweilig würde. Es ist trotzdem unselig langweilig, nein, es ist ärgerlich!

Dabei, welch ein Stoff! »Ödipus auf Kolonos« schrieb der fast neunzigjährige Sophokles und nahm darin noch einmal seinen »König Ödipus« auf. Gibt es ein späten Frieden für den unschuldig schuldig Gewordenen, der sich – immer noch mit Blindheit geschlagen – selbst vor Gericht brachte? Wer die Wahrheit wissen will, der kommt am Ende unweigerlich an den Punkt, da er unweigerlich gegen sich selbst streitet! Denn wer handelt, wird schuldig. Wäre Nichthandeln eine Alternative? Aber was wäre das anderes als Totsein? Die Schuld ist zudem älter als Ödipus. Es war sein Vater König Laios, der einer Prophezeiung wegen, sein eigener Sohn würde ihn töten, den Säugling in der Wüste aussetzen ließ. Aber Ödipus wurde gerettet und wuchs in Korinth bei König Polybos auf, den er auch für seinen Vater hielt. Schließlich erschlägt er Laios im Streit auf einer Landstraße und heiratet seine Mutter, die Königin Jokaste. Der Wahnsinn, wenn man ihn Schritt für Schritt mitgeht, sieht fast so aus wie das ganz normale Leben. Nun hat er sich selbst geblendet und wartet auf seinen Tod. Er hat gelitten und gebüßt, nun will er Frieden. Er ist ein Seher geworden, aber einer, der das Zeichen auf Stirn trägt, das ihn zum Schuldigen macht.

Welch eine in der Geschichte und ihren abrupten Wendungen immer wiederkehrende Konstellation, wegen der auch Shakespeare seinen »Lear« schrieb: Die Mächtigen werden erst zu Menschen, wenn man sie von der Macht befreit, so gründlich, dass sie vor Schmerz schreien. Aber wann ist es gut, wann fällt der Vorhang des Vergessens, der auch eine überlebensnotwendige Gnade ist? Eine Frage des Zeitpunktes und des Maßes, so Sophokles.

Ödipus, der einen Ort sucht, an dem er in Frieden sterben kann, der Flüchtling, der eine Stärke entwickelt hat, die ganz aus Schwäche kommt – welch ein Rolle! Leider glaube ich Klaus Maria Brandauer kein Wort, wenn er auf seinem Stuhl wütet, schreit, krächzt und sich windet. Alles bloß Pose, ausgestellte Gesten schlechtester Burgschauspielermanier. Und seltsamerweise wirken die Frauen in Steins Inszenierungen immer wie Mischungen aus BDM-Mädel und Öko-Aktivistin. Befremdlich angesichts von Antigone und Ismene. Überhaupt, starke Schauspieler wachsen in diesen Inszenierungen nicht – hier wird ja auch nichts szenisch verdichtet, niemals wechselt das Tempo, alles fließt vor sich hin. Der bedeutungsvoll klassizistische Auftritt, der sich derart wichtig nimmt, gerät unfreiwillig komisch.

Nur die alten Schauspieler wissen sich ihrer Haut zu wehren. Roman Kaminski ist wieder in guter Verfassung, hier als Wächter, imposant der allgegenwärtige Chor alter Männer. Martin Seifert als Bote, der nach mehr als zweieinhalb Stunden – dem Gewitterblitz von Ödipus' Tod folgend – seine ersten Sätze sagen darf: aber wie! Und an erster Stelle der großartige Jürgen Holtz als Kreon. Im Rollstuhl sitzend, rot gewandet, spricht zu Ödipus mit aller ihm zur Gebote stehenden Weisheit und Intrige, beides hier nicht sofort auseinanderzuhalten. Das sind die raren Momente, da das Tempo dann doch anzieht und sich in aller Intensität ein geistiger Raum öffnet, den Stein bloß immer beschwört, aber in all seinem Weihespieldünkel nicht erzeugen kann.

Und ich denke an Franz Fühmanns »König Ö.«, eine Erzählung über eine in Griechenland stationierte Wehrmachtstruppe, die den »König Ödipus« als Fronttheater einstudiert – und von der realen Vernichtungsgeschichte überrollt wird. Rainer Simon hat sie in der Wendezeit verfilmt – das sollte man sehen als dramatisches Gegenprogramm zur Steinschen Auffassung der Antike.

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