Die Ostdeutschen sind ein Volk für sich
Erhellende Studie in der Potsdamer Landeszentrale für Politische Bildung vorgestellt
Ausgangspunkt für die These war ein Urteil des Arbeitsgerichtes Stuttgart, das vor einigen Wochen die Klage einer seit 22 Jahren in Westdeutschland lebenden Ostdeutschen zurückgewiesen hatte. Mit der Begründung »Ossi« hatte eine Fensterbaufirma die Bewerbung der Frau abgelehnt, worauf sie wegen Diskriminierung geklagt hatte. Allerdings vergeblich, und das, obwohl das Gericht ihr zugestand, dass diese Bemerkung diskriminierend gemeint und auch so verstanden worden sein könnte. Aber nach Auffassung der Richter sind »Ossi« oder »Ostdeutscher« nun einmal keine eigenständige Ethnie, und deswegen komme das Diskriminierungsverbot nicht zum Tragen.
Wissenschaftler Koch – er bekundeten freimütig, er hätte an Stelle der Frau lieber nicht geklagt – widerspricht und führt eine Reihe von Argumenten an, die den Ostdeutschen als Gruppe vom übrigen Deutschen abheben und ihm die Merkmale eines Volksstamms verpassen. Die meisten Bewohner der neuen Länder würden sich in erster Linie als Ostdeutsche sehen, und das ethnische Sebstbewusstsein (»Wir-Sie«) sei als entscheidendes Merkmal ausgeprägt, gab er zu bedenken. Skurril war für Koch vor diesem Hintergrund, dass Pfarrer Joachim Gauck, der zur Minderheit der sich in erster Linie als Bundesbürger fühlenden Ostdeutschen gehöre, vor der Bundespräsidentenwahl von Medien als »Kandidat der Ostdeutschen« angepriesen worden sei: »Das war er nicht.«
Wesentlich für Koch ist auch der stabile Unterschied zum Westen, der in einer mehrheitlichen Konfessionslosigkeit liegt. Entgegen mancherlei Erwartungen habe weder eine Renaissance des Christentums noch ein Überhandnehmen von Sekten und sektenähnlichen Gruppen in den neuen Ländern stattgefunden.
Schließlich ordnet sich der aus einer »arbeiterlich geprägten« ostdeutschen Gesellschaft Stammende laut Koch viel entschiedener und problemloser bei Unterschichten und Arbeitern ein als der Westdeutsche, dessen Ideal der Mittelstandsbürger abgebe. Seinezeit hieß es: »Ich bin Arbeiter – wer ist mehr.« Das habe auch die Intelligenz nicht unberührt gelassen. Auch die Selbstverständlichkeit weiblicher Berufstätigkeit habe sich als stabiler Unterscheidungsgrund zum Westen behauptet.
Verblüffend war für die Zuhörer auch, dass dieses spezifische ostdeutsche Bewusstsein nach Auffassung des Wissenschaftlers zu DDR-Zeiten überhaupt nicht existiert hat und erst unter dem Eindruck der politischen Wende ausgebildet worden sei. Außerdem hänge es nicht mehr unbedingt mit DDR-Erfahrungen zusammen, welche ohnehin nur noch die über 35-Jährigen haben könnten. Aber auch die Jüngeren sehen sich mehrheitlich als Ostdeutsche und erst in zweiter Linie als Bundesbürger.
Verstärkt worden seien die Abschottungstendenzen seit 1990 durch das Erlebnis des »Elitenaustauschs«. Im Westen stammen nach Kochs Worten nur fünf Prozent des Führungspersonals aus dem Osten, im Osten selbst seien es lediglich 30 Prozent. Koch gab aber zu bedenken, dass die Entmachtung der »alten Kader« seinerzeit von vielen DDR-Bürgern gewünscht worden sei, obwohl sie damit auf lange Sicht vielleicht nicht gut gefahren seien. Denn eine Schicht, die ostdeutsche Interessen hätte vertreten können, wurde damit entscheidend geschwächt.
Zweifellos hatten sich die Ostdeutschen als eine Gruppe herausgestellt, die in die westdeutsche Gesellschaft schwer zu integrieren sei, schloss der Kulturwissenschaftler, der zu DDR-Zeiten an der Humboldt-Universität arbeitete. Das teilten sie mit Ausländern und dem sogenannten Prekariat. Zur Spezifik gehöre auch, dass die höheren Positionen im Osten vielfach von keineswegs alten Westdeutschen besetzt worden sind. Die Positionen sind also auf lange Zeit blockiert. »Wenn die Jungen etwas werden wollen, dann müssen sie fortgehen.«
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