An den Genen liegt es nicht

Sarrazin-Debatte: Warum die Biologie nicht als Gesellschaftstheorie taugt

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

In den letzten Jahren ist der Berufsstand des Wissenschaftlers vielfach in Verruf geraten, unter anderem durch aufgedeckte Fälle von Datenmanipulation und Betrug. Die Wissenschaft selbst blieb davon weitgehend unberührt. Sie gilt nach wie vor als erste Instanz, wenn es darum geht, gesicherte Erkenntnisse zu gewinnen. Aus diesem Grund sind auch Politiker bestrebt, ihren oft von wirtschaftlichen oder sonstigen Interessen geprägten Aussagen den Stempel »wissenschaftlich fundiert« aufzudrücken. Was im Prinzip leicht möglich ist, denn es gibt kaum eine These, für deren Bestätigung sich nicht irgendwo eine sogenannte Experten-Studie auftreiben ließe. Schon Bertolt Brecht war deshalb zu der bissigen Einschätzung gelangt, dass die Wissenschaftler »ein Geschlecht erfinderischer Zwerge« seien, »die für alles gemietet werden können«.

Auch der frühere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) wird seit Tagen nicht müde, seine Thesen über den drohenden Verfall der deutschen Gesellschaft naturwissenschaftlich zu unterlegen. Das betrifft in Sonderheit den Zusammenhang von Genetik, Verhalten und Intelligenz. Dass seine Aussagen darüber provokativ seien, wie Sarrazin gern betont, ist dabei nicht das Problem. Denn eine demokratische Gesellschaft wäre schlecht beraten, würde sie nur »zahme« Provokationen tolerieren. Sarrazin indes provoziert nicht. Er beruft sich vielmehr auf »wissenschaftliche« Erkenntnisse, die man bestenfalls als antiquiert bezeichnen kann. Ob er das mit Absicht oder aus Unkenntnis tut, sei hier dahingestellt.

Zuletzt hatten der US-Psychologe Richard Herrnstein und der Politologe Charles Murray in ihrem Buch »The Bell Curve« (1994) behauptet, dass Intelligenz großenteils erblich sei und zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen zuweilen erheblich differiere. Es sei daher naturgegeben, dass schwarze US-Amerikaner im IQ-Test im Schnitt 15 Punkte weniger erzielten als weiße Amerikaner. Das Buch wurde rasch zum Bestseller und forderte andere Wissenschaftler heraus, das darin Behauptete empirisch zu prüfen – zum Beispiel in Studien mit eineiigen Zwillingen. Dabei zeigte sich, dass der Schulerfolg von Kindern durch Umwelteinflüsse sowohl stark verbessert als auch gemindert werden kann. Allerdings sind diese Einflüsse vielfältiger als gemeinhin angenommen und manche werden, da sie meist im Verborgenen wirken, leicht unterschätzt. So gehören zur Umwelt eines Kindes nicht nur Eltern und Lehrer, sondern auch Freunde und Idole ebenso wie die Ernährung oder das Verhalten der Mutter während der Schwangerschaft. Dass Herrnstein und Murray solche Faktoren ausgeblendet hätten, sei gewiss nicht zufällig geschehen, meint der Anthropologe Michael Nunley, der überdies glaubt, dass beide Autoren ihre Leser mit umstrittenen Statistiken bewusst in die Irre führen wollten. In neueren Studien hat sich der vermeintlich naturgegebene IQ-Unterschied zwischen Weißen und Schwarzen erheblich verringert. Und es deute alles darauf hin, sagt US-Psychologe Richard Nisbett, dass der genetische Beitrag zu diesem Unterschied »praktisch Null« sei.

Warum Sarrazin die Herrnstein-Murray-Thesen jetzt in Bezug auf Muslime wieder aufwärmt, mag sein Geheimnis bleiben. Denn an den Fakten hat sich in den vergangenen 16 Jahren nichts geändert. Wer daher wie Sarrazin suggeriert, dass es auf Grund der Erblichkeit der Intelligenz illusorisch wäre zu glauben, alle Kinder seien nachhaltig bildungsfähig, kann für sich wohl kaum intellektuelle Seriosität beanspruchen. Sogar dem streitbaren Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) platzte angesichts des elitären Gehabes von Sarrazin der Kragen: »Es gehört zum Grundwesen der Sozialdemokratie, Unterprivilegierung und Chancenungleichheit zu beseitigen und Menschen zum Aufstieg zu verhelfen.« Im Kern hat Buschkowsky sicher recht. Die Frage ist nur, von welcher Sozialdemokratie er hier spricht. Denn seit Gerhard Schröders »Agenda 2010« fällt es schwer, der SPD ein solches Grundwesen überhaupt noch zuzubilligen.

Als wolle er zusätzlich Öl ins Feuer gießen, erklärte Sarrazin in einem Interview: »Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen.« An sich wäre dieser Satz in die Kategorie »Gemeinplätze« einzuordnen. Denn mit gleichem Recht könnte man sagen: »Alle Juden besitzen rote Blutkörperchen.« Jedoch ist mit Blick auf andere Äußerungen Sarrazins zu vermuten, dass dieser etwas anderes mitteilen wollte. Nämlich: Es gibt Gene, die nur in bestimmten Ethnien auftreten und gegebenenfalls das Verhalten oder die Fähigkeiten der dort lebenden Menschen bestimmen.

Hier bedient Sarrazin ein biologistisches Menschenbild, das unter Wissenschaftlern längst als widerlegt gilt. Was jemand, der darüber ausladend in Talkshows sinniert, eigentlich wissen sollte. Anders als der diskreditierte genetische Rassismus unterstellt, unterscheiden sich zwei beliebige Menschen in weniger als einem Prozent ihrer Gene. Zwar gibt es strukturelle Besonderheiten im Genom, mit deren Hilfe man zwischenmenschliche Verwandtschaftsverhältnisse nachzeichnen kann. Doch diese Besonderheiten sagen nichts über die Fähigkeiten der betreffenden Menschen aus. Vielmehr ist die Tatsache, dass bestimmte Genvarianten bei Juden, Basken oder Ostfriesen gehäuft auftreten, vor allem deren gruppenspezifischer Lebensgeschichte geschuldet. Am Ende könne es gar passieren, pointierte vor Jahren der italienische Populationsgenetiker Luca Cavalli-Sforza, dass ein weißer Skinhead einem von ihm verfolgten schwarze Afrikaner genetisch mehr ähnele als anderen Skinheads. Es sei folglich unsinnig, Menschen in Rassen einzuteilen. Denn, so Cavalli-Sforza: »Die äußeren Merkmale mögen unterschiedlich erscheinen, aber unter der Haut sind alle Menschen eng verwandt.« Ein Zahlenvergleich soll dies abschließend verdeutlichen: Von den rund 20 000 menschlichen Genen sind ganze sechs (also 0,03 Prozent) mit der Hautfarbe verknüpft.

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