Mut zur Poesie
Chinesische Lyrik zum Lesen und Hören
ND: Sie begnügen sich nicht damit, ausgewählte Gedichte zu übersetzen, sondern legen dem Band eine Audio-CD bei, auf der die Werke im Original gesprochen zu hören sind. Warum?*
ZIETHEN: Die Leser, die schließlich höchst selten Mandarin beherrschen, erhalten ergänzend einen authentischen Eindruck von Melodie und Klang chinesischer Lyrik.
Von Haus aus sind Sie kein Sinologe. Ziemlich mutig, sich ausgerechnet an uralte Gedichte aus Fernost zu wagen.
Mir ist eine kompetente Co-Autorin zu Hand gegangen. Frau Zhao, die früher Hochschuldozentin in der Volksrepublik war, bevor sie nach Deutschland übersiedelte, fertigte zunächst sinngemäße Übersetzungen an. Dann habe ich die Rohfassungen in gereimte Strophen transformiert.
Warum sollten es unbedingt Reime sein?
Im Chinesischen werden Gedichte auch in Reimform verfasst. Und zwar nach der bewährten Formel A-A-B-A: Die Zeilen eins, zwei und vier reimen sich, die dritte Zeile bricht aus.
Übersetzungen bergen immer die Gefahr in sich, den Sinn des Originals nicht genau zu treffen. Indem Sie das Resultat obendrein in Reime fassen, verschärfen Sie das Problem.
Nein, das denke ich nicht. Wir haben hart gearbeitet, um dem Original so nahe wie möglich zu kommen, und Frau Zhao hat hinterher alles, was ich geschrieben habe, akribisch geprüft. Ein Aufwand, der sich lohnt, weil die Schönheit chinesischer Gedichte erst wirklich nachvollziehbar wird, wenn sie auch im Deutschen gereimt sind.
Sie konzentrierem sich in Ihrem Buch auf Autoren der Tang-Dynastie von 618 bis 907 nach Christus und stellen die betreffenden Lyriker jeweils in Kurzbiographien vor.
Das war eine wichtige Epoche, in der Chinas Wissenschaft und Kultur einen gewaltigen Aufschwung genommen haben. Damals war das Reich der Mitte der Situation in Europa um ein Vielfaches voraus, und das hat mich stark beeindruckt. Ich möchte die Menschen in Deutschland dafür sensibilisieren, was für eine alte Kultur China ist. Gerade in den knapp drei Jahrhunderten der Tang-Dynstie sind viele bedeutende und bis heute bekannte Gedichte entstanden, die eine sehr poetische und malerische Sprache auszeichnet.
Einige der Poeten begnügten sich freilich nicht mit bloßer Ästhetik; etwa Bai Juyi (772–846), der seine Kollegen ermahnte, realitätsnah zu schreiben und sozialkritische Themen aufzugreifen.
Nehmen Sie »Pfirsichblüten im Tempel Dalin«, das in der Forderung gipfelt: »Eingefahr'ne Gedanken gilt es zu überwinden.« Klar, die Botschaft ist verschlüsselt, das ist der damaligen politischen Lage geschuldet, und trotzdem wird deutlich, wozu Bai Juyi aufrufen will: den Mut zu haben, sich nicht mit den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen abzufinden, sondern Neues zu denken.
Yan Zhao, Dieter Ziethen: Leise hör' ich Blüten fallen – Gedichte aus der chinesischen Klassik. Hefei Huang Verlag, 120 S., geb., inkl. Audio-CD, 11,90 €.
Dieter Ziethen: Xiangqi – Regeln und Taktik des chinesischen Schachs«. Hefei Huang Verlag, 176 S., brosch., 12,90 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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