200 Jahre Unabhängigkeit, aber wenig Feierstimmung in Mexiko
»Drogenkrieg« überschattet Jubiläum / Kritik an oberflächlichem Umgang mit der Geschichte
Am Mittwochabend um 23 Uhr wird Felipe Calderón vom Balkon des Nationalpalastes im Zentrum von Mexiko-Stadt den traditionellen »Grito«, den Unabhängigkeitsruf, ausstoßen. Er wird das Land und die verschiedenen Helden der mexikanischen Unabhängigkeitsbewegung hoch leben lassen. Der vom Priester Miguel Hidalgo am 16. September 1810 erlassene Aufruf zur Rebellion wird als der Anfang vom Ende der spanischen Herrschaft angesehen.
In den vergangenen Wochen und Monaten überzog die Regierung die Nation in Werbespots mit Erfolgsmeldungen, die den Feierlichkeiten einen angemessenen Rahmen geben sollten. Doch die Stimmung in Mexiko ist eher gedrückt. Vor allen Dingen die ausufernde Gewalt im sogenannten Drogenkrieg beschäftigt die Menschen. Nicht umsonst erklärte die US-amerikanische Außenministerin Hillary Clinton in der vergangenen Woche, die Lage in Mexiko sei vergleichbar mit der Situation in Kolumbien vor 20 Jahren.
In den vier Jahren der Calderón-Regierung kosteten die Auseinandersetzungen zwischen Drogenkartellen und den Sicherheitskräften etwa 30 000 Opfer, betroffen waren immer wieder auch unbeteiligte Zivilisten. Mehrfach hat der Präsident diese »Kollateralschäden« als unvermeidbar gerechtfertigt. Zuletzt gelangen den Sicherheitskräften zwar einige spektakuläre Schläge gegen wichtige Figuren des Drogengeschäftes. Aber das Nachwuchsreservoir ist schier unerschöpflich. Millionen junger Mexikaner haben keine Arbeit. Für sie ist der Einstieg bei den »Narcos«, den Drogenhändlern, ein erstrebenswerter Ausweg. Oft der einzige.
In mehreren Städten und Ortschaften wurden für den 15. und 16. September geplante Festlichkeiten aus Angst vor Angriffen der Drogenkartelle abgesagt. Darunter in Ciudad Juárez an der Grenze zu den USA. In Mexiko-Stadt und vielen anderen Orten ist das Sicherheitsaufgebot groß. Die Erinnerung an den 15. September 2008, als bei den Unabhängigkeitsfeiern in der Stadt Morelia acht Menschen aufgrund eines Handgranaten-Attentats starben, ist wach.
Kritiker werfen dem Präsidenten und seinen Verantwortlichen angesichts der Realität einen frivolen und oberflächlichen Umgang mit dem historischen Datum vor. Mit Postwurfsendungen versuchte die Regierung in den vergangenen Tagen den Patriotismus zu stärken. Die mexikanischen Haushalte erhielten die Nationalflagge im Format 40 mal 80 Zentimeter – in Plastikfolie eingepackt – und den Text der Nationalhymne.
Zu den Ehrengästen beim »Grito« und beim Defiliermarsch der Militärs am 16. September gehört die frisch gekürte Miss Universum 2010, die 22-jährige Jimena Navarrete. Für Präsident Calderón ist sie ein »Ansporn für Millionen Mexikanerinnen«. Kurzfristig wurden per Dekret auch der 15. und der 17. September zu Feiertagen erklärt, »um die Bürgerbeteiligung und den sozialen Zusammenhang zu fördern«. Mancher vermutet dahinter eine populistische Maßnahme, weil sie den Mexikanern einen fünftägigen Kurzurlaub ermöglicht.
Statt das historische Datum für ein Nachdenken über den Zustand der Nation zu nutzen, wird die Unabhängigkeit nach Meinung vieler Kommentatoren in diesen Tagen mit weitgehend ideenlosen und teuren Shows abgefeiert. Diese Kritik betrifft durchaus nicht nur die konservative Regierung. Eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit der mexikanischen Geschichte der letzten 200 Jahre findet allenfalls in einigen Zeitschriften und akademischen Kreisen statt. Vielleicht kommt diese Situation am besten im Auftragslied für den 15. September zum Ausdruck, das Bildungsminister Alonso Lujambio der Öffentlichkeit vorstellte. Das Lied trägt den Titel »Die Zukunft ist tausendjährig«. Die zweite Hauptaussage des Refrains ist: »Shalalah«.
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