Unter jedem Grabstein eine Weltgeschichte
Dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee wurde ein literarisches Denkmal gesetzt
Kaum ein Lichtstrahl dringt durch das urwaldähnliche Blätterdach. Es hält die Landschaft im Halbdunkel. Das Efeugeflecht auf dem Boden hat jeden Quadratzentimeter unter sich mit dunklem Grün verschlossen. Pilzen gleich zwängen sich vereinzelte Grabsteine aus dem Boden. Die hier ihre letzte Ruhe gefunden haben, so sie einen Blick nach oben werfen könnten, würden ein nahezu unberührtes Stück Natur inmitten der Großstadt erleben.
Ich suche das Grab von Werner Goldstein, 2006 verstorben. Ein Plan der Friedhofsverwaltung des jüdischen Friedhofes Weißensee markiert auf dem Urnenfeld F3 den Platz 115598. Ein schlichter Stein erinnert an ihn. Geburtsdatum, Sterbedatum, kein Spruch für die Ewigkeit, keine wortgewaltigen Lobgesänge auf den Verstorbenen. Doch was für ein Leben zwischen zwei nüchternen Zahlen.
Was weiß ich über meinen einstigen Kollegen und Kommunisten Werner Goldstein? Wenig. Und die Zeit verdrängt die spärlichen Erinnerungen. Jahrelang hat man in einem Zimmer gesessen, gemeinsam gearbeitet, doch es ist wenig hängen geblieben. Werner Goldstein, Journalist der ersten Stunde beim Neuen Deutschland, Antifaschist, den Nazis entkommen, Emigrant, britischer Soldat, Korrespondent des ND in Moskau und
exzellenter Kenner der kapitalistischen Finanzwelt. Wenn in London oder New York die Börse hustete, so konnte er mit klaren, verständlichen Worten dem Leser das Geschehen nahe bringen.
Im Internet ist wenig über Werner Goldstein nachzulesen. Sein Leben, wie das so vieler interessanter Menschen, spielte sich vor der Google-Ära ab. Kaum etwas ist konserviert. Ein Land-und-Leute-Buch über Großbritannien hat er in seinen letzten Lebensjahren geschrieben, ist da zu lesen. Einige Artikel sind überliefert über deutsche und britische Antifaschisten, die im Hinterland des Nazireiches absprangen. Und dann die Enthüllungen über den Altnazi Theodor Oberländer, SA-Mann und getreuer Diener Hitlers der ersten Stunde, der es in der Nachkriegsbundesrepublik bis zum Minister gebracht hat. Dieser Oberländer lieferte die theoretische Rechtfertigung für die verbrecherischen Massenumsiedlungen in den besetzten Gebieten Osteuropas. Seine rassistischen und antisemitischen Schriften bildeten eine Grundlage für den Massenmord an den Juden. Werner Goldstein gehörte zu denen, die das öffentlich machten.
Nur Bruchstücke sind mir in Erinnerung geblieben. Er war ein stiller, sympathischer Kollege, ein älterer Mann mit weißgrauen Haaren und einem Schalk in den Mundwinkeln. Er wurde nie laut oder unsachlich, konnte mit feiner Ironie viele Absurditäten des DDR-Journalismus auf die Schippe nehmen. Ganz leicht, ohne Kraftaufwand. Ich denke an ihn als einen außerordentlich würdevollen Menschen.
Warum weiß ich so wenig über
Werner Goldstein? Die tägliche Informationsflut drängt alles Vergangene in den Hintergrund. Geschichtsbewusstsein ist vergänglich. Das Grauen des Krieges – und das ist gut so – verblasst im Frieden. Antifaschismus lässt sich ebenso wenig konservieren. Alles entsteht immer wieder neu unter konkreten Bedingungen. Nur Antikommunismus scheint vererbbar zu sein.
Ruhe in alle Ewigkeit. Die Toten auf dem jüdischen Friedhof haben sie gefunden. Ihre Gräber tragen nach jüdischer Tradition kein Verfallsdatum. Wer einmal dort beerdigt ist, hat seinen Platz für die Ewigkeit. Am 22. September 1880 fand die erste Beisetzung statt. Über 116 000 jüdische Bürger sind seitdem auf dem größten jüdischen Friedhof bestattet. Werner Goldstein, so ist mir in Erinnerung, wurde mit einer schlichten Urnenbestattung zu Grabe getragen. Erst seit 1926 gab es auf dem
Jüdischen Friedhof Urnenbestattungen, gegen den erbitterten Widerstand des orthodoxen Judentums. Damals endete das Zeitalter der gigantischen Mausoleen und pompösen Grabmale, die Weltwirtschaftskrise machte auch um die jüdischen Berliner keinen Bogen. Von den vielen alten Familiengräbern, die Prunk und Reichtum demonstrierten, sind wenige übrig geblieben. Es überwiegt Schlichtheit.
Auf Spurensuche begaben sich auch die Filmemacherin Britta Wauer und die Fotografin Amélie Losier. Sie wollten Geschichten entdecken, Geschichten hinter den Grabsteinen. Die Karteikarten der Friedhofsverwaltung nennen die nüchternen Fakten. Name, Sterbedatum, Liegeplatz. Es war der Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Hermann Simon, der den beiden den Vorschlag unterbreitete, einen Artikel in der Zeitschrift »Aktuell« zu veröffentlichen. »Aktuell« ist eine offizielle Publikation des hauptstädtischen Senats und richtet sich an ehemalige Berliner, die es aus unterschiedlichsten Gründen in die Welt verschlagen hat, die Deutschland verlassen mussten. Die Reaktion war überwältigend. Es meldeten sich jüdische Menschen aus Neuseeland, Australien, Südafrika, Kanada, den USA, Argentinien, Israel und europäischen Staaten. Sie legten Bilder von Verstorbenen bei und fragten nach, in welchem Zustand sich das Grab ihrer Angehörigen befindet. Und so reiht sich Geschichte an Geschichte, von kleinen und großen Heldentaten, von Familientragödien und dem jüdischen Alltag in Berlin.
Da ist das Grab des Victor Cohn (1803-1896). Er diente 1827 als strammer preußischer Soldat, war bei Prenzlau stationiert. Bei dichtem Schneetreiben hielt er Wache am Pulverturm, als sich eine Gestalt dem Objekt näherte. Der Mann reagierte nicht auf Anruf. Cohn hätte ihn um ein Haar erschossen. Es war, wie sich später herausstellte, der preußische Prinz Wilhelm Friedrich Ludwig, Kartätschenprinz genannt, der die Revolution von 1848 im Blut erstickte und später als Kaiser Wilhelm I. das deutsche Reich zusammenpresste. Wie wäre Geschichte wohl verlaufen, hätte Cohn damals preußisch exakt gehandelt?
Besonders auffällig das weithin leuchtende Metallgittergrab von Clara und Carl Leopold Netter (ein Stahlunternehmer). Mit einem Ehepaar aus der Familie waren sie bei Kempinski Austern essen. Alle vier wurden krank. Die Männer erholten sich, die Frauen starben an den Vergiftungen.
Charlotte und Leopold Jacob starben am selben Tage, am 21. Mai 1940. Tags zuvor hatte Leopold seine Schwester im Westen Berlins besucht, gemeinsam feierten sie seinen 67. Geburtstag. Da er nicht rechtzeitig zur Sperrstunde für Juden nach Pankow zurückkehren konnte, übernachtete er bei der Schwester. Ein Telefon gab es nicht. Charlotte befürchtete das Schlimmste, ihr Mann sei von der Gestapo verhaftet worden. Als er am nächsten Morgen nach Hause kam, fand er seine Frau tot auf. Sie hatte sich aus Verzweiflung das Leben genommen. Daraufhin wählte auch Leopold den Freitod.
Geschichten und Geschichte. Es grenzt an ein Wunder. Der Jüdische Friedhof hat die Nazibarbarei fast unbeschadet überstanden. Während Synagogen brannten, jüdische Geschäfte geplündert und zerstört und die jüdische Bevölkerung der Stadt ausgerottet wurden, blieb der Friedhof inmitten des braunen Hexenkessels so gut wie verschont, fanden Beerdigungen statt, überlebten wenige im Schatten der Gräber. Nach dem Krieg, im Osten gelegen, verharrte der Ort im Dornröschenschlaf und wurde von den wenigen Überlebenden, so gut es ging, erhalten. Beerdigungen waren selten. Fast wäre die Totenruhe geschändet worden, als die aufstrebende DDR ein aus deutschen Urzeiten stammendes Straßenprojekt verwirklichen wollte, der den Friedhof in zwei Hälften zerschneiden sollte. Nur internationalem Protest und dem Engagement der kleinen Ostberliner jüdischen Gemeinde war es zu verdanken, dass dieses Ansinnen auf Anweisung Honeckers gestoppt wurde. Auch antisemitische Schmierereien gab es, nicht jedoch in der offiziellen Berichterstattung.
Die Inschriften der jüngsten Grabsteine auf dem Friedhof tragen vor allem kyrillische Buchstaben. Die Berliner Jüdische Gemeinde ist in den letzten Jahren wieder auf 10 000 Personen angewachsen – Juden aus der ehemaligen Sowjetunion haben in Berlin ihre zweite Haimat gefunden.
Mit jedem Brief aus der Ferne wurde ein weiteres Stück Vergangenheit freigelegt, gleich der vielen Gräber, die unter Efeu versunken waren. Mosaiksteine einer unendlich reichen Kulturgeschichte. Das Duo Wauer/Losier stürzte sich in die Arbeit. Aus Interesse wurde Leidenschaft, aus Fakten entstanden eindrucksvolle Bilder. Aus der Idee wurde ein Buch. In seinem Nachwort zitiert Hermann Simon Heinrich Heine: »... unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte«. Dieser Friedhof zeigt unendlich viel Weltgeschichte.
Britta Wauer/Amélie Losier: Der Jüdische Friedhof Weißensee. Momente der Geschichte. berlin edition im bebra verlag, 176 S., 24,95 €.
Der Film zum Buch wird demnächst im RBB gesendet.
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