Schmerz in Sepia

Peter Wawerzinek offenbart Verletzung

  • Katrin Greiner
  • Lesedauer: 4 Min.

Da hat einer ein Thema: sein Leben lang. Und flüchtet sich dennoch oft in andere Bücher, Texte, schreibt sich häufig nur verschlüsselt auch Verwundung und Schmerz immer wieder von der Seele. Zeigt Außenseiter. Arbeitet sich ab. Kriecht letztendlich durch das Labyrinth seines verletzten, lautlos-schreienden Ichs. Zieht große (Gedanken-)Krei- se, schraubt die Spirale immer enger, auf dass sie schließlich den Kern treffe. »Ich habe gedacht, wenn ich mich schreibend verschenke, entfliehe ich dem Teufelskreis der Erinnerung. Schreibend bin ich tiefer ins Erinnern hineingeraten, als mir lieb ist.« – so lautet der Auftakt zu dem Roman »Rabenliebe« von Peter Wawerzinek, der für einen Auszug aus seinem Roman bereits den Bachmann-Preis und den Klagenfurter Publikumspreis erhielt.

Peter Wawerzinek, früher: Peter Runkel, wurde Anfang der 50er-Jahre in der DDR als Kleinkind von seiner Mutter verlassen. Sie zog es vor, ihr Heil im Westen zu suchen. Ohne Klotz (oder besser: Klötzer, denn eine Schwester gab es auch noch) am Bein. Weggegeben. Im wahrsten Wortsinne lieb-los. Ballast auf dem Weg in das vermeintliche Glück. Wawerzinek taumelte durch Kindereinrichtungen, Familien und das Leben. Als Briefträger, Kellner und Performance-Künstler im Literatur-Paralleluniversum Prenzlauer Berg.

Das »ewige Winterkind« in »Rabenliebe« wächst in verschiedenen Heimen auf, erlebt eine Hoffnungen zerstörende Odyssee durch misslungene Adoptionsversuche und Pflegefamilien – alle sehen es an und sehen es doch nicht, sehen nicht die tiefe Verletzung, die der Schmerz des Schnitts von der Mutter geschlagen hat, in dem Wesen, das jahrelang nicht sprechen mag. Nicht sprechen kann. Ein »ewiges Winterkind«. Sie nennen es wegen seiner »dünnen Ärmchen, Beine wegen Weberknecht«. Das Wesen selbst findet für sich die passenderen Worte: »Schweigekind», »wehes Herzkind«. Wie überhaupt eine äußerst genaue Sprache die Worte zu bitteren Pillen sezieren vermag: »Ohnmacht« ist so eines, »Heimtücke« ein anderes.

In seiner Hoffnungslosigkeit erfindet sich das Kind Simulationen. Immer wieder erklingt fast beschwörend das Eiapopeia altvertrauter Volks- und Kinderlieder. Sich selbst vorgebetet, nie gehört aus der Mutter Mund. Sorgfältig eingewoben wie all die vielen Zitate von Goethe, Fühmann, Trakl, Rilke & Co. Es gibt die eine Form des Schmerzes, die verbindet und die verwandte Geister kennen. Dazu die Märchen, die eigentlich verheißen sollen: Alles wird gut. Aber nichts ist gut. Nichts wird gut. Für so viele nicht. Davon künden die kommentarlos eingefügten Meldungen über Kindesmissbrauch, Kindstötung. Für das verwundete Ich braucht es wohl das Wissen: Ich bin nicht der Einzige. Mein Schicksal ist Beispiel. Ich erzähle stellvertretend. Für all jene mit brennendem »Muttermal«.

In den Berichten von Kindheit und Heim gibt es oft eine seltsame Schwebe zwischen Idylle und Schmerz. Erinnerungen wie in Sepia gezeichnet. Flimmerfilmartig. Man erliegt leicht der Versuchung zu glauben, nicht alles sei schlecht gewesen auf diesem Kreuzgang des verlassenen Kindes. Es hatte doch Freunde! Spiele! Menschen, die es wuschen und fütterten! Bis zum nächsten wortlosen Ab- schied ...

Zehnjährig landet dieser Junge in seiner letzten Adoptionsfamilie, seinem »Adoptionskäfig«, in einer kühlen, kindfremden Umgebung, die versucht, ihn nach ihren Normen zu formen. Auch hier bleibt Liebe ein Fremdwort. Kein In-den-Arm-Nehmen. Kein Mutmachen.

Als Grenzsoldat unternimmt er später einen halbherzigen Fluchtversuch, getrieben von dem Wunsch, endlich die Mutter zu finden. Und diese Möglichkeit ist nach dem Mauerfall zum Greifen nah: eine »Mutterfahrt« zum Eispol. »Der Rest ist rasch berichtet«: Ganze 27 Seiten dauert es, um die Mutter vollends zu dekonstruieren. Denn die sitzt sprach- und emotionslos in ihrer Küche, versteckt hinter Kaffeetasse und einer gedankenlos gekauften Herrenrolle aus dem Supermarkt. Kein Erinnern. Kein Einsehen. Kein Gedanke an Wiedergutzumachendes. Kein Und-wenn-sie-nicht-gestorben-sind. Die Mutter »bleibt im Kind gestorben, ist tot, bleibt es«.

Und doch: Für den Erzähler gibt es mit vielen Halbgeschwistern zumindest einen Halbgewinn und für den Leser ein zutiefst berührendes, atemberaubendes Buch, dem man einfach alle Preise wünschen möchte.

Peter Wawerzinek: Rabenliebe. Roman. Galiani Berlin. 432 S., geb., 22,95 €.

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