»Realität – nicht mit Teelöffeln«
»Spur des Lebens« – Klaus Walther im Gespräch mit Erik Neutsch
Nächstes Jahr wird er achtzig, und er will mit Genugtuung auf sein Leben blicken. Da darf er sich mit vielen Lesern einig wissen, die froh sein werden über dieses Buch, weil ihnen Erik Neutsch aus dem Herzen spricht. Ein Mann fester Überzeugungen, keiner von den Suchenden, Zweifelnden, wie es vielleicht Jüngere sind, die sich auch einbringen müssen in heutige Verhältnisse und nach dem Scheitern des sozialistischen Versuchs mit Utopien vorsichtig sind.
Dagegen ist Erik Neutschs Jugend ein Aufbruch ins Neue, ins Lichte gewesen. Er war ein ehrgeiziger junger Mann, der schon bevor er eine Zeile veröffentlicht hatte, »Dichter und Dialektiker« als Beruf angab, als ihm 1946 ein Personalausweis ausgestellt werden sollte. Die Frau hinter dem Schalter fragte dreimal zurück und schrieb dann »Tischler und Elektriker« auf die rote Karte. Das sei doch »was Handfestes« freute sich die Mutter. »Da haste immer viel zu tun und Arbeit.« Aber auch wenn er sich zugute hält, nie die Tuchfühlung verloren zu haben zu jenen, die ihren Unterhalt durch körperliche Arbeit verdienen, »Dichter und Dialektiker« ist nun mal sein Ziel gewesen. Das er verwirklichen konnte in der DDR.
Solche wie er waren gefragte Leute in der jungen Republik, wo nicht mehr diejenigen das Sagen haben sollten, die bis dahin das Sagen hatten, wo die Regierenden früher auch mal Arbeiter waren und ihrer Klasse zutrauten, eine neue, gerechte Gesellschaft aus der Taufe zu heben. In der BRD war das anders, da blieben die bürgerlichen Eliten weitgehend in ihren Positionen, wie sich jetzt erst wieder durch das Buch »Das Amt« bekräftigt hat. Dort hätte Erik Neutsch natürlich auch Schriftsteller werden können, aber wahrscheinlich gegen viele Reibungen. So aber war er von einem sozialen Umfeld getragen, dem er mit Herz und Verstand verbunden war.
»Dass die Genossen mich für klug hielten, sich meiner annahmen und mich drängelten, an das, sowohl von Lehrern als auch von Schülern, noch ziemlich bürgerlich besetzte Realgymnasium zu gehen« – das ist nur der Anfang. Als der Direktor dort ihn mit dem Satz »Handwerk hat goldenen Boden« abwimmeln wollte, weckte das seinen Stolz und seinen Zorn. So blieb es bis heute: »Bürgerliches« ist ihm suspekt.
In der Buchreihe von »Neues Deutschland« und dem Verlag »Das Neue Berlin« ist dies der siebente Band – der erste, der nicht von einem Redaktionsmitglied verfasst worden ist. Wahrscheinlich hätte es keiner von uns so gekonnt wie Klaus Walther, der über lange Jahre Erik Neutschs Lektor war, der ihn genauestens kennt und mit seinem Temperament umzugehen weiß. Trotzdem hatten es die beiden wohl nicht leicht miteinander. Anderthalb Jahre hat es gedauert, bis das Buch fertig war. Das Interview auf Band aufzunehmen und danach in eine schriftliche Fassung zu bringen – schwierig genug auch das –, erwies sich als unmöglich. Man unterhielt sich, und danach schickte Klaus Walther die Fragen schriftlich, die dann schriftlich beantwortet wurden. Um so erstaunlicher, wie es beiden Gesprächspartnern gelang, sich auf einen Text zu einigen, der den Reiz des Mündlichen, des Für und Wider in sich trägt.
Wenn Zwei sich streiten, freut sich der Dritte, was in diesem Falle der Leser ist. Er erlebt einen ebenso freundlich wie beharrlich nachfragenden Klaus Walther und einen Erik Neutsch, der strikt sein Konzept verfolgt. Über Persönlichstes wird er offen sprechen. Man erfährt von seiner Haftzeit 1945/46 unter Werwolf-Verdacht, von seiner ersten großen Liebe und was geschah, als Helga schwanger war, man erfährt von Irrungen und Wirrungen, einer Scheidung, der bald wieder die Heirat folgte. Erik Neutschs Bewegtheit geht auf den Leser über, wenn er vom Tod seiner Frau erzählt. Und man kann sich gut vorstellen, wie er in Anne, die auch im Buch abgebildet ist und kurz zu Wort kommt, eine neue Gefährtin fand. Denn dieser massige Mann braucht eine Frau, die ihn stützt, auch wenn er es sich von früh an abverlangte, nach außen und auch für sich selbst, eine gewisse Stärke zu leben.
An dieser Stärke soll niemand kratzen dürfen. Da werden auch gegen den leisen, lang vertrauten Klaus Walther die Stacheln ausgefahren, wenn der auch nur den Anschein erweckt, eine in welchem Sinne auch immer selbstkritische Äußerung zu erwarten. Aber wer solch ein Interview führt, das kenne ich doch auch, will Räume öffnen, den Gesprächspartner – und sich selbst – in Bewegung bringen. Etwas in Frage zu stellen ist interessanter, als Fragen zu stellen, zu denen man die Antworten schon ahnt.
Die Widersprüche tanzen lassen, denn: Starr, sage ich mir, sind wir noch lange genug. So geht es mir überhaupt, wenn ich schreibe: Es macht mir keinen Spaß, mit fertigen Ansichten zu hantieren. Und wenn mir solche vorgesetzt werden, reizt mich der Blick auf die Kehrseite – die es immer gibt, wie auch Neutsch als »Dialektiker« sicher weiß. Aber er braucht festen Boden unter den Füßen. Relativierung – und »Metaphysik« schon gar – sind seine Sache nicht.
Was er sich für dieses Gesprächsbuch vorgenommen hat: Seine Überzeugungen kundzutun. So soll es auch sein. Der Fragende gibt Denkanstöße, und der Antwortende entscheidet, was er wie davon aufnimmt. Er hat das Recht auf Selbstdarstellung. Und der Lesende hat die Chance, einen anderen Menschen zu verstehen, das Soziale und das Geschichtliche, das ihn prägte. Im Falle von Erik Neutsch ist das vor allem die Frühzeit der DDR.
Ein Weltbild, das für manch einen bis heute Heimat ist, auch wenn es den dazugehörigen Staat nicht mehr gibt. Warum er zusammengebrochen ist? Es war »eine Republik der Habenichtse, die sich ständig der Herrschaften von einst und ihrer Raubzüge erwehren musste«, sagt Neutsch. Außerdem: »Die sozialistische Revolution ... war auf der Hälfte ihres Weges steckengeblieben. Sie hatte, bestenfalls, die Kader der Partei erreicht, nicht aber das Volk.« Kritik aus kommunistischer Sicht: »Ich für meinen Teil zog mir oft den Unmut gewisser Funktionäre zu, wenn ich meinte, statt des realen sollte man wieder den idealen Sozialismus auf die Fahnen schreiben, dessentwegen ich in die Partei eintrat.«
Dann wieder poltert er los: »Zwei Staaten daran zu messen, ob sie genügend Bananen zu verkaufen haben (wer übrigens von ihren Verbündeten konnte der DDR welche liefern?) oder die besseren Autos (woher sie nehmen und nicht stehlen?) – das hat doch mit Souveränität im Denken nichts zu tun.« – Ach ja, die Ideale und das Volk ...
Volksnähe ist für Erik Neutsch Prämisse seines Schaffens. »Ich habe mit solchen wie den Ballas in Bauhütten gelebt.« Und wenn ihm einer den Vorwurf macht, er schaufele Realität geradezu in seine Bücher, hält er dagegen: »Besser so, als dass die Realität bei mir mit Teelöffeln serviert wird.«
Warum auch soll er seine Art zu schreiben nicht verteidigen? Weit über dreißig Romane, Erzählungen und Essaybände verzeichnet die Bibliographie. »Ich war, in der DDR sowieso, aber auch über die Grenzen hinaus, ein anerkannter und geachteter Autor« – da ärgert sich Erik Neutsch, wenn Literaturkritiker ihm nicht den beanspruchten Rang einräumen. »Ohne ein wissenschaftlich sauberes Weltbild ist eine Literatur, die realistisch sein will, nicht einmal die Hälfte wert.« Da mag Klaus Walther erklären, dass er »ein wenig anderer Meinung« sei, er wird kein Bedenken wecken. Wobei Erik Neutsch wohl insgeheim weiß, wann er brüskiert. Es gefällt ihm, er mag solche Kernsätze, bei denen manchen der Hut hochgeht und andere in die Hände klatschen.
Man wird im Buch eine Menge erfahren über die Entstehung von Neutschs Werken, darüber, wie er Gestalten und Handlung konzipiert und welche Pläne er für die Zukunft hat. Tatsächlich schreibt er an seinem Romanwerk »Der Friede im Osten« weiter. Das fünfte Buch soll »Plebejers Unzeit oder Spiel zu dritt« heißen. Und er hat sogar schon das sechste im Auge: »Jahre der ruhigen Sonne«.
»Erik Neutsch – Spur des Lebens«, in der Buchreihe von »Neues Deutschland« und dem Verlag Das Neue Berlin erschienen (240 S., geb., 16,95 €).
Zu bestellen über ND-Bücherservice (030) 29781777
Buchpremiere mit Erik Neutsch:
23.11., 19 Uhr,
Ulrichmedienwelt, Große Ulrichstraße 7, 06108 Halle.
Eintritt: 5 Euro
Ticketreservierung 0345-20 9337 13 oder per E-Mail:
tickets@ulrichmedien.de
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