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Krieg und Frieden II
Jonathan Franzen gelang mit »Freiheit« ein großer Wurf
Welche Erholung, was für ein Genuss! Nach all den literarischen »Wunderkindern«, die nirgends so oft entbunden werden wie in den USA, nach all den Schriftstellern, die in den letzten Jahren »den großen amerikanischen Roman« geschrieben haben sollen, in Wahrheit eher flüchtige Geistigkeit hinterließen, nach dieser Durststrecke kommt nun ein Franzen, der einem den Glauben an die mögliche Größe eines in der iPod-Ära so unzeitgemäßen und gerade daher so wichtigen Gegenstands wie einem gedankenreichen Roman zurückgibt. Dass er sich dafür neun Jahre Zeit nahm (obgleich er ihn nach Blockaden und depressiven Heimsuchungen letztlich binnen eines Jahres schrieb), belegt vielleicht, dass gut Ding tatsächlich Weile haben will.
Aber man weiß ja von Jonathan Franzen (Jahrgang 1959), in Chicago geboren und im gleichfalls mittelwestlichen St. Louis aufgewachsen, dass er sich nicht als einen der begnadeten Vielschreiber wie Philip Roth oder den seligen John Updike sieht. Franzen, der mit 51 und »Freiheit« seinen vierten Roman vorlegt, hat erst im Sommer wieder erklärt: »Jedes Mal, wenn ich mit einem Roman beginne, kommt es mir vor, als hätte ich noch nie einen geschrieben. Das war beim ersten so, und es hat sich bis heute nicht geändert.« Macht eine Pause und fügt an. »Ich bin fast ein bisschen stolz darauf, kein professioneller Romanautor, sondern lebenslänglicher Amateur zu sein.«
Wie sein bisheriges, neun Jahre zurückliegendes Meisterwerk »Die Korrekturen«, das sich fast drei Millionen Mal verkaufte und dem Autor in seiner Heimat den National Book Award eintrug, ist »Freiheit« die Geschichte einer Familie. Aber mehr noch als die »Korrekturen« ist der neue Roman ein weit gefächertes Porträt der USA, ein Zustandsprotokoll unserer Zeit – mit ihren wirtschaftlichen Verwerfungen und sozialen Zumutungen, der Umweltzerstörung und ihrer fragwürdig heuchlerischen Bekämpfung, mit prekären Existenzen, unbefriedigenden Karrieren und eben brüchigen Familien wie den Berglunds – Patty und Walter und ihren beiden Kindern Jessica und Joey – aus St. Paul, Minnesota.
Von der Befindlichkeit dieser Familie und ihrem Auseinanderfallen, von den Konflikten der Eltern mit deren Eltern, von der Erziehung der Kinder, die die Entfremdung innerhalb der Familie nicht verhindern kann, von Pattys Lust auf Walters besten Freund, den bindungsunfähigen Musiker Richard und von ihrer davon unberührten, fortgesetzten Liebe zu Walter, von Walters Engagement für Natur und Umwelt, das ihn vor opportunistischen Verstrickungen mit Wirtschaftsinteressen nicht feit – von all dem soll hier gar nichts weiter ausgebreitet werden. Dieses Auf und Ab der Familie in ihren inneren Beziehungen und ihren mit der gesellschaftlichen Umwelt verbundenen Strängen hat Franzen mit einem so weit geöffneten Kamerawinkel eingefangen, dass die Wirkung auf den Leser aus dem Erlebnis der Komplexität ungleich größer ist als aus dem Herausheben bezeichnender Einzelheiten. Gerade im Ermitteln und Erfassen der Zwischentöne der innerfamiliären und der darüber hinausragenden zwischenmenschlichen Beziehungen, in der ironischen und selbstironischen, immer ernsthaften und den Einzelnen ernst nehmenden Zeichnung seiner Personen besteht Franzens Meisterschaft.
Er schafft ein Gewebe aus Aktion und Reaktion, aus Suchen und Finden, wie es den Tolstois und Dickens, Balzac und Thomas Mann in ihren größten Werken gelang. Der gewagte Vergleich greift für diesen Franzen-Roman nicht zu hoch. Das liegt an seinem ordentlichen Umfang zuletzt. Franzens Fähigkeit, seine Akteure als komplexe, in vielen Fragen suchende und ratlose, sture und doch wandlungsfähige Geschöpfe mit dem Ehrgeiz auf bleibende Werte und Erkenntnisse zu gestalten, ist ebenso selten wie berührend und großartig. Und es macht einem bewusst, wie erfüllend es sein kann, dass Lesen eine Beschäftigung ist, die kein Multitasking duldet: Entweder man liest – oder macht etwas anderes. Beides zusammen geht nicht.
Welche Rolle spielt der Titel »Freiheit«? Nicht leicht, das eindeutig zu beantworten. Darin liegt etwas Unbefriedigendes, andererseits etwas, was der erwähnten Differenziertheit von Franzens Charakteren entspricht. Franzen hat es bei Erscheinen der Originalausgabe »Freedom« gegenüber einem Journalisten des britischen »Guardian« abgelehnt, darüber zu sprechen. Es war der einzige Punkt, in dem er eine Diskussion verweigerte und bloß sagte: »Die Bedeutung dieses Begriffs im Roman? Den Punkt werde ich nicht anrühren. Ich habe es mir geschworen, darüber nicht zu reden. Ich neige eher zu der Haltung: ›Hier, Leser, hast du ihn, mach dir deinen Reim drauf!‹«
Dem Verfasser dieser Zeilen kam es manchmal vor, als habe sich Franzen zu »Freiheit« entschlossen, weil Tolstois »Krieg und Frieden», an den man bei »Freiheit« ebenso denken muss wie an Manns »Buddenbrooks«, schon vergeben war. Doch abgesehen davon, dass gerade der Freiheitsbegriff für Amerikaner einen biblischen Stellenwert besitzt, erscheint der Buchtitel wenn nicht irreführend, so auf nützliche Weise deutbar: Worin besteht der Gewinn einer Freiheit von Familie? Worin der Nutzen einer Freiheit von ideologischen Überzeugungen? Worin der Gewinn einer Freiheit, die Entwurzelung bedeutet? Man versteht Franzens Zögern, sich hier auf Deutungsdebatten einzulassen.
Patty, die vor der Trennung von Walter in ihrem zu groß gewordenen Haus ihrer Leere nachsinnt, fragt sich: »Wo kam das Selbstmitleid her? In diesem übersteigerten Ausmaß? Sie führte doch in fast jeder Hinsicht ein luxuriöses Leben. Tagtäglich hatte sie von morgens bis abends Zeit, einen Weg zu finden, wie man vernünftig und zufriedenstellend lebte, und dennoch schien sie, bei all ihren Wahlmöglichkeiten und all ihrer Freiheit, immer nur noch unglücklicher zu werden. Die Autobiographin sieht sich beinahe zu der Schlussfolgerung genötigt, dass sie sich selbst dafür bemitleidete, so frei zu sein.«
Jonathan Franzen: Freiheit. Deutsch von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag. 736 S., geb., 24,95 €.
»Freiheit« als Hörbuch, gelesen von Urich Matthes (gekürzte Fassung, Der Hörverlag, 15 CDs, 34,95 €).
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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