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Von Sokrates bis Emmely

Uwe Wesels Geschichte des Rechts in Europa

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Was wäre Athen ohne den Schierlingsbecher, den Sokrates fast übermütig trank? Was Rom ohne sein Recht und seine Justitia? England ohne die Magna Charta, Frankreich ohne Napoleons Code Civil, Deutschland ohne sein Grundgesetz oder das Bundesverfassungsgericht? Das Recht ist zu allen Zeiten wesentlicher Bestandteil der Zivilisation gewesen. Immer ist es Ausdruck der herrschenden Verhältnisse, Maßstab für den Entwicklungszustand, Motor und zugleich Bremse der Entwicklung. Seine Geschichte wurde lange als Voraussetzung dogmatischer Jurisprudenz gelehrt, von Historikern vernachlässigt, vom gebildeten Publikum gelangweilt beiseite gelegt. Bis jetzt Uwe Wesel mit seinem sprachlich bezwingenden Meisterwerk alle um den Schlaf bringt. Er schreibt fast dreitausend Jahre europäischer Geschichte entlang seiner nicht nur nach Epochen, sondern auch nach Völkern, Ländern und Gesellschaften gegliederten Rechtsgeschichte.

Bevor der 1933 geborene Hamburger Autor Rechtswissenschaft studierte, hatte er sich der Altphilologie verschrieben. Das kommt den beiden Kapiteln über Griechenland und Rom zugute. Nichts charakterisiert das – überdemokratische – Athener Recht besser als die Tatsache, dass über Sokrates 501 (!) »Richter« urteilten. Die bis heute nachwirkenden Meisterleistungen römischen Rechts würdigt Wesel mit der Vorstellung und Diskussion der Begriffe Eigentum und Besitz sowie der Rechtsfigur des Vertrages. Bei den alten Römern gab es erstmals professionelle Juristen. Solchen qualitativen Sprüngen in der Entwicklung des Rechts zollt Wesel begründete Bewunderung, so auch der zweitausend Jahre später erfolgenden »Erfindung« der Institution des Staatsanwalts unter Napoleon.

In jede Epoche führt der langjährige Vizepräsident der FU Berlin mit einem kompakten historischen Abriss ein. Auf wenigen Seiten erzählt Wesel beispielsweise vom Frühen Mittelalter, ehe er sich den rechtlichen Verhältnissen in den einzelnen erst entstehenden Ländern widmet, den Dualismus von Kirche und Staat herausarbeitet.

Athen und das Römische Reich kannten nicht die erst mit dem Christentum aufkommende gegenseitige Durchdringung von Kirche und Staat, von weltlichem und kirchlichem Recht. Erst die allmähliche Zurückdrängung dieser Verzahnung hat unsere moderne Rechtsordnung geschaffen. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde die Zivilehe anstelle der kirchlichen Trauung mit der Möglichkeit der Ehescheidung eingeführt. Erst sehr spät erfolgten die strafrechtlichen Neuregelungen des Schwangerschaftsabbruchs oder die Abschaffung der Strafbarkeit von Homosexualität unter erwachsenen Männern – alles Vorschriften, die christlichen Rechtsvorschriften entsprachen.

Großartig gelingt Wesel die Darstellung des Verfassungswerks der Europäischen Union. Diese Beschreibung gehört in jede Schule und jedes Politikerbüro. In einem abschließenden Kapitel vergleicht der Autor das »europäische« Recht mit dem anderer großer Kulturwelten, der chinesischen, der indischen und der muslimischen. Dabei wird deutlich, was sich als »europäischer Kern« dieser Rechtsgeschichte herausgebildet hat, der zunehmend auch eine soziale Komponente kennt.

Wesel ist ein politisch engagierter Jurist, der am Ende seines Buches eine »europäische« Analyse des Falls der Kassiererin »Emmely« unternimmt. Er gleicht die fraglichen Pfandbons im Werte von 1,30 Euro an den von ungetreuen Bankern empfangenen Boni in Millionenhöhe ab und schreibt: »Man soll die Hoffnung nicht aufgeben, wenn man auf mehr Gerechtigkeit im Recht wartet, auch zu Gunsten von Menschen wie Barbara. E.« Der letzte Satz seines temperamentvoll aber »sine studio et ira« geschriebenen Buches ist ein Nachtrag: »Das Bundesarbeitsgericht hat ihre Kündigung am 10. Juni aufgehoben.«

Uwe Wesel: Geschichte des Rechts in Europa. Von den Griechen bis zum Vertrag von Lissabon. C.H. Beck. 734 S., geb., 38 €

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