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Die Legende von der politischen Freiheit
Napoleons Maximen und Gedanken
Er scheint einem Meteoriten vergleichbar: Napoleon Bonaparte. Sein gleißender Anflug, sein irritierendes Strahlen über ganz Europa, selbst sein Verglühen hat Zeitgenossen und Nachgeborene fasziniert. Der Revolutionsgeneral und postrevolutionäre Franzosenkaiser, der die Literaten und das freie Denken und Schreiben verfolgte, hat gleichwohl eine Unmasse von Literatur als Kometenschweif nach sich gezogen.
Wie er in seinem Leben die Tat verherrlicht, aber das Denken beargwöhnt hat, so reproduzieren die wissenschaftlichen und belletristischen Erinnerungen immer wieder Taten und Tatbestände des bahnbrechenden Erneuerers oder des egozentrischen Machtmenschen – je nach Denkungsart der Erinnerer. In unseren Tagen, da sich die filmische Reproduktion vergangenen Lebens auch Napoleons bemächtigt hat, wobei »action« regiert, stehen die Taten im Mittelpunkt der Darstellung. Vom originalen Denken wissen wir wenig – wie denn Napoleon selbst auch nie auf den Gedanken gekommen ist, als Heerführer oder Staatsmann eine systematische Lehre zu formulieren.
Diesem Mangel hat kein Geringerer als Honoré de Balzac abhelfen wollen. Obwohl ungemein angespannt durch sein Riesenwerk »La comédie humaine«, war er sich nicht zu schade, Napoleons geistige Reflexionen aus der zeitgenössischen Überlieferung zu sammeln, um sie in 525 »Maximen und Gedanken« herauszugeben: 1838 – zwei Jahre vor der Überführung des Leichnams von der Verbannungsinsel Sankt Hélena ins Panthéon zu Paris.
Ob politische Parteinahme den Sohn eines Beamten, der zur Zeit von Waterloo und Napoleons endgültigem Sturz erst 15 Lebensjahre zählte, zu den Mühen der viel späteren Edition trieb, ist dem Vorwort seiner Ausgabe schwer zu entnehmen. Niemand dürfe sich anmaßen, so schrieb er, den großen Mann zu verteidigen oder anzuklagen. Sein Denken sei eine »Gesetzessammlung«, die man ablehnen oder auch annehmen werde. Doch Balzac machte bewusst, dass der gestürzte und verfemte Imperator ein unbedingter Verfechter der zentralistischen und zudem kaiserlichen Staatsmacht gewesen war – in »direktem Gegensatz« zum parlamentarisch bemäntelten, aber finanz-aristokratischen »Bürgerkönigtum« des Louis-Philippe von Orléans: »Napoleon hat eine dem Parlament verantwortliche Regierung als unmöglich und die Pressefreiheit als unvereinbar mit dem Machterhalt angesehen.«
Balzacs historische Edition hat nun Ulrich Kunzmann aus dem Französischen übertragen. Zuerst sind da Gedanken, die Napoleon als »Republikaner oder Citoyen«, also vor dem Staatsstreich des 18. Brumaire, von sich gab und die uns noch heute angehen: »In Revolutionen gibt es nur zwei Arten von Menschen: diejenigen, die die Revolution machen, und diejenigen, die Nutzen daraus ziehen.« Dann die Maximen zur »Kriegskunst«: »Bei denen, die etwas zu verlieren haben, findet man keine unerschrockenen Leute.« Hernach Gedanken zur Ausübung und Ausgestaltung der Staatsmacht: »Wenn man die politische Freiheit gründlich prüft, erweist sie sich als eine allgemein anerkannte Legende, die von den Regierenden ersonnen wurde, um die Regierten einzuschläfern.« Die vierte und letzte Gruppe enthält Reflexionen der persönlichen Erfahrungen und des Unglücks: »525. Als neuer Prometheus bin ich an einen Felsen gekettet, wo mich ein Geier zerhackt; ich hatte das Feuer des Himmels gestohlen, um es Frankreich zu schenken; das Feuer ist nach oben zu seiner Quelle zurückgekehrt, und nun bin ich hier.« Wir müssen vermuten, dass diese Worte auf der fernen Verbannungsinsel geäußert wurden – denn weder Balzac noch die vorliegende Edition geben Hinweise auf Ort, Zeit oder Quelle der zitierten Texte. Den Abschluss bildet ein Porträt des britischen Außenministers Castlereagh, den der Verbannte als die Personifikation »ganz Englands«, des Hauptfeindes Frankreichs, auffasste. Balzac empfand sich durchaus als Franzose, wenn er schrieb: »Noch aus Grabestiefen kämpft Napoleon weiter gegen England.«
Der heutige Herausgeber hat der Ausgabe Balzacs eine biografische Skizze aus der Feder des österreichischen Staatskanzlers Metternich hinzugefügt. Den Fachhistorikern seit dem 19. Jahrhundert nicht unbekannt, dürfte die erneute Publikation für den allgemeinen Leser von großem Interesse sein. Gibt es doch kaum einen Zeitgenossen, geschweige denn politischen Gegenspieler, der Napoleon derart unvoreingenommen und facettenreich porträtierte.
Obwohl geistiger Führer der antinapoleonischen Koalition in den Entscheidungsjahren von 1813 bis 1815, achtete Metternich in seinem Gegner einen Mann, »den die Gewalt der Ereignisse, im Verein mit seinen überragenden persönlichen Qualitäten, auf den Gipfel einer Macht getragen hat, die in der modernen Geschichte ohne Beispiel ist«. Gewiss stand Metternich für den zeitweiligen Sieg der spätfeudalen, also fürstlichen Restauration. Dagegen verkörpert Napoleon die Epopöe eines Individuums, das aus den dunklen Tiefen der Menschheit zur höchstmöglichen Herrschaft gelangte – und somit den Bruch der frühen Moderne mit der Feudalwelt veranschaulicht: mit ihren knechtenden Geburtsprivilegien, mit angemaßten Vorrechten und Besitztümern sowie mit entwicklungshemmenden Ständestrukturen.
Im Guten wie im Unguten war Napoleon das leibhaftige Erzeugnis der bürgerlichen Revolution Frankreichs. Er war darüber hinaus der Mann eines Zeitalters, das in der Historie allein seinen Namen trägt.
Napoleon Bonaparte: Maximen und Gedanken. Ausgewählt und mit einem Vorwort von Honoré de Balzac. Matthes & Seitz. 136 S., geb., 18,80 €
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