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Vitamine für die Demokratie

Stuttgart 21 – Die besseren Argumente

  • Jürgen Reents
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Brutreaktor in Kalkar ist eine der großen Investitionsruinen in Deutschland. Sieben Milliarden DM wurden in ein AKW investiert, das nie in Betrieb ging und heute als Kletterwand in einem Vergnügungspark dient. Nie in Betrieb ging auch eine in Wackersdorf geplante atomare Wiederaufarbeitungsanlage. Rund zehn Milliarden DM waren verpulvert, als das Bauen daran abgebrochen wurde. Heute beheimatet das Gelände den »Innovationspark« eines Autoherstellers. Eingestellt wurden ebenso Planung und Bau von Transrapid-Strecken hierzulande, sie verschwanden mitsamt den bereits dafür aufgewendeten 1,4 Milliarden Euro Fördergeldern.

Als Gründe für das Aus all dieser Großprojekte wurden jeweils aus dem Ruder laufende Kosten, darunter Milliarden öffentliche Mittel, oder nicht vorhergesehene technische Probleme genannt. Das war nicht falsch. Es kam aber immer ein weiterer Grund hinzu: Die Bauvorhaben galten vielen von Anfang an als Wahnsinn, ernteten teils massiven Widerspruch.

Das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 könnte irgendwann mit in dieser Reihe genannt werden. Seit »S 21« vor knapp 17 Jahren in einer »Machbarkeitsstudie« vorgestellt wurde, entwickelten sich zunächst Kritik, dann Protest, seit einigen Monaten Widerstand von Zehntausenden. Inzwischen dürften Hunderttausende oder Millionen weit über die baden-württemberger Landesgrenzen hinaus recht gut informiert sein über Einzel- und Groteskheiten dieses Projekts, über seine ausufernden Kosten und seine technischen Ungereimtheiten sowie über die Engstirnigkeit, mit der die Betreiber eine brachiale Polizeigewalt an die Baufront schickten. Dazu haben nicht zuletzt die ganztägigen Live-Übertragungen der Schlichtungsrunden im Südwest-Regionalfernsehen und überregional auf Phoenix beigetragen. Der Ereignis- und Dokumentationskanal erreichte dabei in der Zuschauerquote einen Oktoberrekord seit seinem Sendestart 1997.

Braucht es da noch ein Buch über dieses Projekt? Es kommt darauf an, was für eines. In dem bei PapyRossa erschienenen Band »Stuttgart 21 – Oder: Wem gehört die Stadt« haben die Kritiker von »S21« ihre Argumente facettenreich zusammengetragen. Zwanzig Autorinnen und Autoren belegen nicht nur, dass sie reichlich gut mit Argumenten ausgestattet sind, sie demonstrieren in ihrer bunten Mischung zugleich die Breite des Stuttgarter Bürgerzorns.

Manch Detail in diesem Buch mag dabei nur für die unmittelbaren Aktivisten und Multiplikatoren selbst von Interesse sein. Aber auf den knapp 200 Seiten findet sich allerhand Wissenswertes und Lehrreiches über die »geheimen Akten und Fakten« des Bauvorhabens (Arno Luik), über Motivationen des Protests (Sabine Leidig), über die in der Bewegung gegen das Bauvorhaben akquirierte kulturelle Phantasie (Volker Lösch), über das Scheitern eines vergleichbaren Projekts in Frankfurt am Main (Klaus Gietinger) und über öffentliche Debatten als »Vitaminstoß für die Demokratie« (Werner Wölfle).

Hervorzuheben sind insbesondere zwei Beiträge von Winfried Wolf, dessen bereits 1995 erschienenes Buch »Stuttgart 21 – Hauptbahnhof im Untergrund?« das früheste kompetente Dokument gegen diese ebenso hohle wie monströse Bahnplanung wurde. In dem einen seiner Texte listet Wolf die »sieben Lügen« auf, mit denen die Planung für den Tiefbahnhof aus der Taufe gehoben und begleitet wurde. In einem zweiten Text belegt er kenntnisreich, dass »Stuttgart 21 primär ein groß angelegtes Immobiliengeschäft« ist, bei dem es nicht allein um die schwäbische Metropole geht, sondern beispielhaft um »die gesamtdeutsche Vermarktung von Bahngelände und von Bahnhöfen zum Zwecke der Bodenspekulation, was keusch als ›Stadtentwicklung‹ umschrieben wird«. Und was selten der Fall ist: Hier lohnt es sich sogar die Fußnoten zu lesen, in denen Wolf informative Exkurse etwa über Verkauf und Rückkauf der Fernmeldeanlagen der Deutschen Bahn oder über die Privatisierung der Eisenbahnerwohnungen bundesweit unterbringt. Wolfs Thema ist die »autogerechte« Zurichtung der Städte.

»Die Gewissheit, das Richtige zu tun und dies mit friedlichen Mitteln durchsetzen zu können, macht die Stärke des Protestes aus«, schreibt der Schauspieler Walter Sittler im Vorwort zu diesem Buch. »Wenn jemand etwas weiß, dann kann man dem nicht mehr mit billigen Werbesprüchen kommen«, sagt Gangolf Stocker, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21. Und er fügt hinzu: »Klar ist schon heute: Es kann keinen Kompromiss geben. Wir nutzen die Schlichtung, um für unsere Argumente zu werben. Wir haben die besseren – die haben keine.«

Sofern man nicht schon bei den live übertragenen Schlichtungsgesprächen Augen- und Ohrenzeuge wurde, dass Stockers Feststellung keine Hybris ist – in diesem Buch lässt sich zumindest der gedankliche Reichtum der einen Seite kompakt nachlesen. Und man ahnt sehr schnell, warum es keine vergleichbare Publikation der S21-Befürworter gibt.

Das Buch handelt von dem Stoff, aus dem Demokratie gemacht werden kann: Argumente und Aktivität, Kenntnisse und Kreativität, Wissen und Widerstand. Die Autorinnen und Autoren zeigen am Exempel Stuttgart 21, wie sich dies zueinander fügt.

Volker Lösch/Gangolf Stocker/Sabine Leidig/Winfried Wolf: Stuttgart 21 – Oder: Wem gehört die Stadt. PapyRossa. 187 S., br., 10 €

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