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Das gemeinsame Gedächtnis

Umberto Eco und Jean-Claude Carrière zur Zukunft des Buches

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 4 Min.

Ist es eine Schande, Umberto Ecos Roman »Der Name der Rose« nicht gelesen zu haben? Und ist es unaufrichtig, dieses Buch trotzdem als großes, wichtiges Buch zu loben? Beide Fragen hätte ich bis vor Kurzem wahrscheinlich mit ja beantwortet. Dann las ich diesen Band mit Gesprächen zweier alter, weiser Männer über ihre Liebe zu den Büchern. Und finde darin eben jenen Umberto Eco sagen, er habe »eine ziemlich genaue Vorstellung« von dem, was er nicht gelesen hat.

So geht es mir ja mit Ecos Roman, über dessen Hintergründe ich mir Wichtiges aus dem Internet angeeignet habe, dessen Verfilmung mit Sean Connery ich kenne, und über den ich mich mit Menschen unterhalten habe, die versichern, ihn gelesen zu haben. Ich habe »eine ziemlich genaue Vorstellung« von einem Buch, das ich noch nie in den Händen hielt. Nachdem ich jetzt die heiter-klugen Gespräche zwischen dem italienischen Semiotik-Professor und Schriftsteller Eco und dem französischen Drehbuchautor Jean-Claude Carrière gelesen habe – vom ersten bis zum letzten Wort –, steht »Der Name der Rose« einmal mehr auf der Liste jener Bücher, die ich unbedingt lesen will. Dass diese Liste während der Lektüre beträchtlich angewachsen ist, liegt freilich daran, dass hier zwei universell gebildete Geister miteinander reden, ausgewiesene Kenner der Geschichte, die ihnen vor allem eine Geschichte der Bücher ist. Die Lust, mit der sie davon reden, steckt an.

Natürlich sind die Dialoge zwischen Eco und Carrière über »die große Zukunft des Buches« alles andere als eine Entschuldigung für das Nichtlesen. Man erfährt darin so viel Interessantes über Schriften, von denen man allenfalls eine Ahnung, aber eben keine Kenntnis hat, dass man den Rest seines Lebens lesend verbringen möchte. Allein: Man weiß doch, dass das nicht geht.

Der große Trost, der aus der Lektüre eines so gescheiten Buches über das Buch sich ziehen lässt, ist die Erkenntnis, dass die Essenz der wirklich wichtigen Bücher sich auch außerhalb ihres Einbands verbreitet. Was wir denken und wie wir handeln, rührt mehr noch aus dem Vermächtnis des vormals Geschriebenen als das, was wir (etwa aus dem Internet) wissen. »Wissen ist das, womit wir befrachtet sind und was nicht immer nützlich ist. Erkenntnis ist die Umwandlung von Wissen in Lebenserfahrung«, sagt Jean-Claude Carrière.

Insofern ist der lesenden Teilhabe an diesen Gesprächen mehr zu entnehmen als all das Wissen, das Eco und Carrière reflektieren; nämlich die Erfahrung der Wissenden, dass eine Kultur ohne Bücher nicht zu haben ist. Kultur, sagt Eco, ist »das kollektive Gedächtnis«. Und das Buch ist dessen beste denkbare Stütze, so perfekt wie das Rad, dessen Erfindung nichts besseres folgen konnte.

Es gibt also Bücher, deren Wirkung sich weit über den Kreis ihrer Leser hinaus entfaltet. Bücher aber, die von niemandem mehr gelesen werden, verschwinden, auch wenn sie körperlich noch vorhanden sind. In Kellern und Archiven verstaubt nicht nur Papier, auch Geist (und mehr noch: Ungeist) verblasst.

Lange diskutieren Eco und Carrière, beide leidenschaftliche Sammler antiquarischer Schätze, über zufällige und willkürliche Auslese. Wovon hängt es ab, welche Schriften die Zeit überdauern? Wie würden wir heute lesen und leben, wenn bewahrt worden wäre, was unterging? Was lernen wir gerade aus der Geschichte niedergeschriebener Dummheiten und Irrtümer über das, was wir Wahrheit nennen? Was kommt uns abhanden, wenn wir diese Bücher vergessen?

Zwar räsonieren die beiden fast Achtzigjährigen über den Gedächtnisverlust einer Gesellschaft, die sich einer stets noch beschleunigten Flut ungefilterter Informationen ausgesetzt sieht, zwar preisen sie die größere Beständigkeit des gedruckten Buches gegenüber modernen Trägermedien, die sich alle Jahre selbst überleben; aber sie stehen doch keineswegs auf Kriegsfuß mit der Technik. Gefragt, welches seiner 50 000 Bücher der Sammler Umberto Eco im Falle eines Brandes zuerst retten würde, sagt der: »Nachdem ich so gut von den Büchern gesprochen habe, lassen Sie mich antworten, dass ich zuerst meine externe Festplatte mit 250 GB an mich reißen würde.«

Das ist so gewitzt wie das Bekenntnis lustig ist, dass Eco, wenn er die Zeit findet, sich gern am Computer im Niedermetzeln von Monstern aus dem All übt. Gänzlich verstehen lässt sich die bevorzugte Rettung der Festplatte aber nur, wenn man weiß, dass darauf alles gespeichert ist, was Eco selbst in den vergangenen dreißig Jahren geschrieben hat. In diesen, seinen Schriften, heißt das, ist mehr von seiner imposanten Bibliothek enthalten, als sich mit einem Handgriff sonst retten ließe.

Umberto Eco/ Jean-Claude Carrière: Die große Zukunft des Buches. A. d. Franz. v. Barbara Kleiner. Hanser. 288 S., geb., 19,90 €

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