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»Kalter Sinn löst den Knoten nicht«
Wilhelm Schmid schreibt über die Liebe, also über ein Leben voller Be-Sinnung
Das Wort von der Lebenskunst ist zum Kernbegriff für eine ausgefeilte Bewegungstechnik geworden: wie man möglichst mühelos über die Runden kommt, wie man sprungkraftsparend Hürden nimmt und wie man ohne Fliehkraftgefahren jede Kurve kriegt. Als Lebenskünstler gilt oft genug, wer galant zu begradigen oder geschickt zu umgehen weiß, vor allem: Verbindlichkeiten, Vertrauensfelder, Verantwortungsmühen.
Es ist der Philosoph Wilhelm Schmid, der seit Jahren mit seinen Büchern über die Lebenskunst just diesen Begriff wieder ins Licht eines ethischen Adels hob: Jener abenteuerliche Geist der Lüste, sich selbst zu mögen, erscheint in schöner steter Willkommensnähe zu Anderen. Die Kupplung gleichsam als treibendes Organ, um in die Gänge eines Lebens zu kommen, in dem individuelle Interessen zur Grundenergie für gesellschaftliche Wärmeentwicklungen werden. Das Ich ausbilden, um fähig für ein Wir zu sein.
Nie also war Schmids Werk Anleitung für egobeschränkte Rückzüge, seine Philosophie feiert nicht die narzisstische Selbst-Befriedigung – im Gegenteil: Das gute Verhältnis zum Eigensinn ist die Basiskultur zur Formung eines Beziehungsgeflechts. Der gesteuerte Egoismus als sozialer Impuls. Im Buch »Die Geburt der Philosophie im Garten der Lüste«, erschienen vor einigen Jahren, bedachte Schmid Michel Foucaults »Archäologie des platonischen Eros« im Lichte moderner Entfremdungen und entwarf Denkbilder spannenden Lebens zwischen Aufladung und Askese. Nun sein neuester Großessay: »Die Liebe neu erfinden« – Kreisungen um alles, was beim Lieben ein Gegensatz-Paar bildet: Vorsicht und Leidenschaft, Höhepunkt und Ernüchterung, Überschwang und Tiefpunkt, Freiheit und Bindung, Kommen und Gehen, Einmaligkeit und Gewöhnung, Treue und Verrat, Gewissheit und Angst, Anfang und Ende.
»Auf die Feier der Oberfläche der Haut und des Fleisches folgt das Bewusstsein der Abgründigkeit des menschlichen Lebens, die Melancholie«. So bewegt sich Schmid vorwärts, stets den Konflikt schauend, dies Allerlebendigste; stets zielt sein punktuelles Beschreiben zahlreicher Vor-Kommens-Arten von Liebe letztlich auf die umfassende »Seinsbefriedigung«. Wer sich verändern wolle, »kann sich vom Anderen verändern lassen; wer eine Veränderung des Anderen will, kann bei sich selbst beginnen.«
Schmid schreibt über Männer, sie würden »nachzuarbeiten haben«, denn über der Suche nach Wahrheit sei der Mann – historisch gesehen – »zum Opfer seiner Maßlosigkeit geworden, von den Lüsten hinweggespült, mit denen er nicht umzugehen weiß«. Die Frau hingegen »obsiegt immer, ohne dass ihr etwas daran läge«. Über die These: der Weg zur Differenzierung. So denkt Schmid nach über Spiel und Ernst, über körperliche, seelische, geistige Liebe – der entscheidende Wesensbegriff, der dieses Buch durchzieht, ist jene »atmende Liebe«, die im Grunde generelle Menschenaufgabe zwischen Romantik und Pragmatik ist: alle Wechselfälle bewusst zu leben und einen erlösenden Ausgleich zwischen den mannigfaltigen Polen unserer Existenz darin zu sehen, sich, ja: sich, geschehen zu lassen. Sich betont von innen her zu begreifen, statt sich zu viel und widerstandslos von äußeren Bedingungen in den Griff nehmen zu lassen. Der Mensch, der neben deiner Hand beginnt, als Anfang auch zur Welt, die nicht in unserer Hand ist.
Es sei gesagt, dass der Titel des Buches ein wenig Übertreibensverdacht auslöst. Denn Aufrufe zur Neuerfindung grassieren geradezu – gipfelnd in dem gut gemeinten Rat, man müsse ja auch sich selber jeden Tag neu erfinden. Der neue Mensch des sozialen Utopismus war auch so eine Erfindung. Aber im Maße, wie das Hauptproblem aller neuen Zeiten eines bleibt, nämlich der in beträchtlichen Teilen ewig alte Mensch, so fördert doch auch alle Neubesinnung, alle Neu-Besinnung und alle Neube-Sinnung in Dingen der Liebe nur immer wieder zutage, was immer war: Sie bleibt einerseits verbraucht »wie Äther, Staat und Kunst« (Botho Strauß), vernutzt, zerschlissen und durchdacht; Liebe ist gleichsam seit Jahrtausenden total überlastet »mit zweien, die weiter auf Erden nichts wissen wollen als sich« (noch einmal Strauß). Andererseits bleibt sie dauernde Regeneration, tritt in jedes Leben als Original ohne Kopie, ist empfindliche soziale Entzündung, wie nie gehabt, ist Temperatursturz von fremd zu intim – da braucht nichts von niemandem nirgends und je erfunden zu werden; das Lieben ist eine Körper-Seelen-Wiederholungstäterschaft der fortwährenden Art seit Menschengedenken.
Das Lieben als Wunder: dass da die Spitze eines anderen Herzens wie ein Blitzableiter das Gewöhnliche und Gegebene und Garstige ab in die Erde lenkt. Wie nur erklärbar?! Erkenntnis mag auf allen Gebieten schier ins Unermessliche wachsen – was Liebe anrichtet, ausrichtet, was sie gütig richtet und an Gericht spricht – es ist ewiges Geheimnis. Woher diese immer frische Sucht nach Blendung und Begeisterung, dieser Drang nach unerschöpflicher Annäherung, nach großzügiger Unterwerfung? Keine Erkenntnis kommt besagtem Geheimnis nahe. »Kalter Sinn löst den Knoten nicht«, sagt Fernando in Goethes »Stella«, und Cäcilie erwidert: »Und kann der Knoten gelöst werden, heiliger Gott im Himmel!, zerreiß ihn nicht.« Der Fassungslosigkeit des Subjekts, schreibt Schmid, »entspricht die des Objekts, der Liebe selbst: Eigenartig ist die gänzliche Unfassbarkeit des Phänomens, wie bei der Seele, wie bei Gott«.
Dass der Autor trotzdem zum Analysierenden, zum Ordnenden, zum geschichtlichen und kunstgeschichtlichen Diskurs, zur psychologischen Ermunterung und zur philosophischen Erhellung ansetzt, hat einen Hauch Kühnheit. Es ist bei Schmid blanke Menschen-Liebe. Er ist ein Versöhner mit den Unwägbarkeiten des Lebens – indem er sie als wahren Stoff des Lebens ins Bewusstsein rückt.
Natürlich weiß Schmid, dass da nichts neu zu erfinden, sondern einzig etwas zu finden sei: liebesstarke Selbstkräftigung im Ansturm der uns entliebenden Kräfte, die da heißen: soziale Aufkündigungen, eine Ethik des ausgedehnten biografischen Wanderns. Schmids Buch ist also weiser und lebensnäher als sein Titel: Es erfindet nicht die Liebe neu, aber es kann die Lust entfachen, in Zeiten des illusionslosen Abwinkens, des distanzierten Ablachens und des selbstschützerischen Abkehrens wieder Liebe zu fassen wie einen verloren geglaubten Mut.
»Der Weg der Menschheit«, heißt es im Buch, »ist gepflastert mit Unmöglichkeiten, die dennoch wirklich werden.« Liebe (mal Drift, mal Stätte) ist die Möglichkeit, etwas Unmögliches zu erahnen, zu streifen – um es verlässlich wieder zu verlieren: Erlösung. Denn: Einer liebt immer mehr als der andere, und der stärker Liebende ist immer der Schwächere. Weil das Intensivere zugleich das übermäßig Verletzliche, das Angreifbare, aus Hingabe Verunsicherte bleibt. Und da Liebe Natur ist, gilt auch in ihr deren Gesetz: In der Natur ist in letzter Instanz nichts zugunsten des Schwächeren ausgerichtet.
Das klingt tragisch, zumindest gefährlich, und ist es auch. Schmids Buch klärt darüber auf; es ist aber zu klug, das Unbegreiflliche klären zu wollen. Du bist glücklich und blind, sagt die Liebe, und wendet sich zum Anderen: Du bist unglücklich und siehst.
Wilhelm Schmid: Die Liebe neu erfinden. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen. Suhrkamp. 399 S., geb., 19,90 €
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