Das intimste Erlebnisprotokoll
Die wunderbaren Tagebücher des Samuel Pepys
Vor Jahren stöberte ich mal mit Arno Reinfrank, dem viel zu früh verstorbenen Poeten, der schon lange in England lebte, in einer Londoner Buchhandlung. Und ganz oben, unter der Decke, sah ich eine Reihe von Bänden mit einem Autorennamen, der mir nicht unvertraut war: Samuel Pepys, seine Tagebücher von 166o bis 1669 in acht Bänden. Ich kletterte auf einer Leiter nach oben, nahm einen Band aus dem Regal, dann schob ich ihn wieder in das Fach, diese Buchreihe bedeutete ganz sicher Übergewicht im Flieger, also ließ ich es mit einer Träne im Auge stehen.
Ich hatte ja längst einige Auswahlbände dieses Tagebuchschreibers, die in Deutsch erschienen waren, gekauft und gelesen. Und in jedem dieser Bücher riefen die Liebhaber dieses Autors nach einer Gesamtausgabe: Roger Willemsen, Volker Kriegel; die beste Ausgabe wurde schon 198o in Leipzig bei Insel von Anselm Schlösser veranstaltet, und es gibt auch die Reclam-Edition von Helmut Winter, im Taschenbuch und in Hardcover. Schon in diesen Auswahlbänden spürt man das Besondere des Tagebuchschreibers: Es ist, wie seine Leser wissen, eine herrliche, eine wunderbare Lektüre.
Samuel Pepys geboren 1633 in London, kam über seinen Vetter als Beamter in das britische Flottenamt, später ins Marineministerium, und schließlich wurde er sogar ins Unterhaus gewählt. Er war ein großer Büchersammler, ein Freund guten Essens und nicht zuletzt ein Liebhaber der Frauen. Aber für uns ist er vor allem der Tagebuchschreiber, dem es gelingt, große Geschichte, die Rückkehr zur Monarchie in jenen Jahren, das Wüten der Pest in London von 1665 und den großen Brand im Jahre 1666 mit seinen Affären, Erlebnissen und Eindrücken zu verknüpfen.
»Das intimste Erlebnisprotokoll, das bis dahin je ein Mensch geschrieben hatte«, nennt es Dietrich Schwanitz in seiner »Englischen Kulturgeschichte«. Und tatsächlich: Es gibt wohl kein anderes Tagebuch, das aus so vielerlei Details existiert. Pepys erzählt unentwegt aus seinem Berufsalltag, mit all den Querelen und Betrügereien, die er erlebt. Aber neben diesem Beamtenleben schildert er Theater, Musik, erzählt von seiner Lektüre und wie gesagt, nicht zufällig nennt sich eine Auswahl »Der erotische Pepys«, denn das ist er auch, darin durchaus ein Kumpan Casanovas. Kein Rock ist vor ihm sicher, wenngleich er alle Fremdgänge dann wieder zutiefst bereut. Nichts Menschliches war ihm fremd, darf man sagen, aber dazu kam dann auch die Fähigkeit, diese Zeit, ihre Geschichte und seine Geschichte zu beschreiben.
Natürlich geht es ums Geld: »Geld ist denn auch ein immer wiederkehrendes Thema, wie es hergestellt wird, wie es geliehen und verliehen, ausgegeben und gespart wird und wie man es versteckt«, schreibt Claire Tomalin in ihrer außerordentlich lesenswerten Biografie des Samuel Pepys. Wenn wir nun das ganze Tagebuch in Deutsch lesen können, muss man unbedingt auch Claire Tomalins Biografie übersetzen.
Die Pepys-Tagebücher: total 4416 Seiten – fünf Jahre Arbeit für sechs Übersetzer und einen Lektor. Ja, das Unternehmen kostet, und ärgerlich ist auch, dass diese schöne Ausgabe nur über den Versanddienst bzw. die ausgewählten Läden von Zweitauseneins erhältlich ist. Eigentlich sollte jeder gute Buchhändler diese Bücher im Regal haben oder besser noch: oft über seinen Ladentisch reichen. Aber erst einmal Freude über den ganzen Pepys. Und nun wollen wir nur noch die Tagebücher der Brüder Goncourt auf Deutsch und, wie gesagt, Claire Tomalins Pepys-Biografie. Den Pepys brauchen wir jedenfalls nun nicht in London aus einem Regal zu holen, Übergepäck zu bezahlen, die Post bringt ihn uns ins Haus.
Samuel Pepys: Die Tagebücher 1660-1669. 9 Bände. Hrsg. von Heiko Arntz, Gerd Haffmans. Haffmans Verlag bei Zweitausendeins. 4416 S., geb., 169,90 €.
Bestellungen über: Zweitausendeins Versand. Postfach 610 637, 60348 Frankfurt am Main,Tel.: (069) 420 80 00
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