OSZE hart an der Existenzgrenze

Langes Ringen um Abschlussdokument

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein Streit um die Abschlusserklärung hat am zweiten und letzten Tag den Gipfel der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Kasachstan überschattet. Bis zum späten Donnerstagabend (Ortszeit) war unklar, ob sich die Vertreter der 56 OSZE-Mitglieder auf ein Schlussdokument einigen konnten. Der Konflikt verläuft vor allem zwischen Georgien und Russland. Der türkische Staatspräsident Abdullah Gül hatte die Teilnehmer beschworen, sich auf eine inhaltsreiche Erklärung zu einigen. »Lasst uns Entschlossenheit zeigen, dass die OSZE den Aufgaben gewachsen ist.«

Man müsse es offen sagen: »Die OSZE beginnt, ihr Potenzial zu verlieren« Russlands Präsident Dmitri Medwedjew hatte allen Grund zu harscher Kritik an der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), deren zweitägiger Gipfel gestern in Kasachstans Hauptstadt Astana – dem einstigen Zelinograd – zu Ende ging. Zwar hatte Gastgeber Nursultan Nasarbajew die Tatsache, dass sich die Organisation nach elf Jahren erstmals wieder zu einem Treffen auf höchster Ebene aufraffte, als »Wiedergeburt« gefeiert. Fast wäre es jedoch eine Totgeburt geworden.

Georgiens Präsident Michail Saakaschwili wollte die von Experten in monatelanger Kleinarbeit ausgehandelte Abschlussdeklaration per Veto verhindern – Beschlüsse können nur im Konsens aller 56 Mitgliedstaaten gefasst werden –, wenn aus dem Dokument die »scharfen Ecken« verschwinden. Gemeint war Kritik an Russland, das seine Truppen nicht aus den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien und damit auf die Linie vor Beginn des Krieges im August 2008 zurückgezogen hat. Die meisten westlichen Staaten sehen darin einen Verstoß gegen den unter Vermittlung von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy ausgehandelten Waffenstillstand.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow dagegen drohte mit Verweigerung seiner Unterschrift für das Abschlussdokument, sollte dort von einem »Konflikt in Georgien« oder von »territorialer Integrität Georgiens in Bezug auf frühere Grenzen« die Rede sein. Russland hatte Abchasien und Südossetien gleich nach dem Krieg als unabhängig und damit als eigenständige Subjekte des Völkerrechts anerkannt. Für den Westen sind beide Regionen Bestandteile Georgiens.

Das Thema Georgien beherrschte die Diskussion in Astana über weite Strecken und machte nicht nur den von Russland kritisierten Reformstau und den Modernisierungsbedarf der OSZE deutlich, sondern auch deren Identitätskrise. Gegründet 1975 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, tut sie sich schwer mit adäquaten Reaktionen auf politische Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Einer der Gründe dafür, dass ein Konsens über die künftige Ausrichtung der OSZE auch in Astana verfehlt wurde.

Der zweite, wichtigere hat mit Fortbestehen der alten Blockmentalität zu tun. Genervt von permanenter Kritik an Demokratiedefiziten – vor allem an Abstimmungen, die angeblich europäische Standards verfehlen – und Menschenrechtsverletzungen, fordern Russland und andere ehemalige Sowjetrepubliken eine Reform der Statuten, mit denen der Tätigkeit von OSZE-Wahlbeobachtern und der Mitarbeit nichtstaatlicher Organisationen Grenzen gesetzt werden. Mit eben diesem Hintergedanken wollte auch Gastgeber Nasarbajew andere Themen einbringen: wirtschaftliche und finanzielle Sicherheit, Umweltschutz oder religiöse Toleranz.

Die EU-Staaten und die USA dagegen wollen die OSZE vor allem auf mehr Engagement für Demokratie und Menschenrechte einschwören und sie in Fragen der Sicherheitspolitik möglichst mit rein regionalem Konfliktmanagement befassen – um zu vermeiden, dass die OSZE Kompetenzen der NATO übernimmt und diese langfristig ersetzt. Genau das, woran Russland mit der Politik kleinster Schritte arbeitet, und dies lange bevor Medwedjew seinen Entwurf für einen Europäischen Sicherheitsvertrag vorlegte, der in dieselbe Richtung geht.

Nasarbajew, der Russland gegenüber weitgehend loyal und bekennender Euroasiate ist – was vor allem mit wirtschaftlichen Interessen Kasachstans als Drehkreuz zu tun hat –, sprach sich sogar für einen »gemeinsamen Sicherheitsraum vom Atlantik bis zum Pazifik und vom Eismeer bis zum Indischen Ozean« aus. Den hatte tags zuvor schon Medwedjew in seiner Botschaft ans russische Parlament beschworen.

Das klingt gewaltig, womöglich zu gewaltig. Und damit ist die OSZE ausgerechnet beim Versuch des Aufbruchs zu neuen Ufern der Selbstabschaffung einen Schritt näher gekommen. Wenn es in Astana überhaupt Gewinner gab, dann war es Nasarbajew. Schon dass Kasachstan als erste ehemalige Sowjetrepublik den OSZE-Vorsitz übernahm war für ihn eine Prestigeerfolg. Dass es ihm gelang, immerhin 28 Staatschefs an den Verhandlungstisch zu bekommen, trug ihm sogar Sympathien bei der Opposition ein.

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