Der Super-Gauck
MEDIENgedanken: Hat Wikileaks das Potenzial zur globalen Unterlagenbehörde?
Rainer Brüderle war auf der richtigen Fährte. Aus Versehen. Beim Versuch des Bundeswirtschaftsministers, die Enthüllungs-Webseite Wikileaks wegen ihrer »Sammelwut« als neue Stasi zu brandmarken, richtete der FDP-Mann diesen Vorwurf (wohl irrtümlich) an die USA. Gesammelt hat schließlich die Supermacht. Veröffentlichung war nicht das Geschäft der Stasi.
Übernimmt bei dieser Rollenverteilung also Wikileaks den Part einer Unterlagenbehörde, nur im globalen Maßstab? Erwächst aus dem momentan medial an die Wand gemalten Super-GAU der Diplomatie eine Art Super-Gauck? Ein Archiv, anhand dessen Staaten und Konzerne von Forschern ähnlich seziert werden können, wie es mit der DDR geschehen ist?
Das Potenzial zur internationalen Gauck-Behörde hat die Plattform bereits angedeutet, durch ihre Veröffentlichungen zu Korruption in Kenia, zu Machenschaften von Scientology und Privatbanken oder zu den Kriegen in Afghanistan und Irak. Die alleinige Zuspitzung auf die Offenlegung der Botschaftsdepeschen wird der Organisation nicht gerecht.
Noch ist Wikileaks aber weit davon entfernt, die in den Medien beschworene »totalitäre« Öffentlichkeit herzustellen. Richtig ist, man hat durch den jüngsten Coup kurze Blicke erhaschen können, in bislang von »nationaler Sicherheit« und allerlei Geheimdienst-Hokuspokus verbarrikadierte Sphären. Was wir in den Depeschen lesen konnten, ist teils skandalös, teils nebensächlich, mitunter Furcht einflößend. In seiner Gesamtheit aber ist es so banal, dass man feststellen kann: Mit herunter gelassenen Hosen kann man jedes Staatengebilde lächerlich machen.
Diese Erkenntnis ist ein gutes Argument für die unterm Strich zu begrüßende Veröffentlichung der Botschaftsberichte. Letztere relativieren auch die öffentliche Stasi-Betrachtung. Sollten einst FBI-Akten aus den Hoover-Jahren auf dem Tisch liegen – Mielkes Gruselkabinett würde im Ranking der Geheimdienstschweinereien wahrscheinlich ein beachtliches Stück abrutschen. Was natürlich weder Mielke noch Hoover entlastet.
Bemerkenswert ist die aggressive Ablehnung, die Wikileaks in vielen Medien erfährt. Aus ihr spricht zum einen Neid – angesichts der durchschlagenden Wirkung der Datendesperados. Es ist lange her, seit die letzte Pressestory die internationale Politik derart wirkungsvoll in einen aufgescheuchten Hühnerhaufen verwandelt hat. Zum anderen äußert sich hier die Verärgerung der medialen Diplomatie-Experten darüber, dass sie die Deutungshoheit verloren haben, über die bislang mürrisch hingeworfenen, mageren Brocken Geheimdienst-Kaffeesatzes. Zu guter Letzt spricht aus den wütenden und warnenden Presse-Kommentaren der Rechtfertigungsdruck. Die Umtriebigkeit der Wikileaks-Aktivisten verdeutlicht unangenehm das eigene Versagen beim Afghanistan- und vor allem beim Irakkrieg.
In der momentanen regelrechten Panikmache vor einem »Ende der Diplomatie« wird neben übertriebenem Respekt vor einem elitären (zugegeben: notwendigen) Polittheater auch eine gewisse Bequemlichkeit deutlich. Hier meint man in vielen Redaktionen einen Unwillen zu spüren, mal wieder den eigenen Job zu tun. Da wird sich nicht gierig auf diesen ausufernden Stoff gestürzt. Da werden auch nicht die echten Skandale, die das Konvolut ja enthält, als solche herausgestellt. Stattdessen wird der Depescheninhalt fälschlich pauschal als unbedeutender Klatsch abgetan. Was ihn dann andererseits so gefährlich macht, wird nicht erklärt. Dass aber seine Veröffentlichung ganze politische Systeme erschüttern kann, scheint ausgemacht.
Dabei ist die Sorge vor der Systemerschütterung durch die neue Öffentlichkeit unbegründet. Die Bankenkrise hat gezeigt, dass auch bestens dokumentierte, geradezu monströse Skandale das Finanzsystem nicht gefährden konnten. Was könnte Wikileaks veröffentlichen, um zu übertreffen, was sich im Zuge des Kasino-Infarkts gerade vor unser aller Augen abgespielt hat – vollkommen folgenlos für die Delinquenten. Und mit bestenfalls verhaltener Empörung. In Deutschland etwa reagierten die Menschen mit einem Rekordergebnis für die FDP. Wer also angesichts von Wikileaks die Revolution ausbrechen sieht, unterschätzt dramatisch den Grad der Abgestumpftheit der Bürger. Unverbesserliche Optimisten wiederum hoffen, dass zumindest eine ähnlich dreiste Lügenkampagne, wie sie im Vorfeld des Irakkriegs inszeniert wurde, seit Wikileaks nicht mehr möglich ist. Das ist in dieser Allgemeinheit leider zu bezweifeln. Punktuell aber könnten die Internet-Guerilleros durchaus Akzente setzen, die helfen, Kriege zu verhindern.
Echte Berechtigung hätte eine utopische Unterlagen-Weltbehörde ohnehin nur, wenn sie tatsächlich Whistleblower aus der ganzen Welt und auch aus den privaten Chefetagen versammeln würde. Der Verdacht der Instrumentalisierung gegen einzelne Staaten oder auch gegen die Idee des Staates an sich darf gar nicht erst aufkommen. Und auch die Frage nach der Fälschungs-Gefahr muss nachdrücklich gestellt werden: Wie verhindert man gezielte Fehlinformation, versteckt etwa in einer Flut von echten Depeschen?
Ganz nebenbei bietet die Geschichte natürlich Stoff für die ganz große Leinwand. Da ist der Hauptdarsteller Julian Assange, ein charismatischer, gehetzter Jason Bourne der Datenströme. Da gibt es eine teils hysterisch reagierende Supermacht, die durch Zensurversuche eigene Moralpredigten ad absurdum führt und deren Botschafter die Welt arrogant katalogisieren. Eine verschworene Netzgemeinde, die es auf ihrem Terrain scheinbar mit Geheimdiensten und Kreditkarten-Konzernen aufnehmen kann. News-Channels, die Wikileaks verdammen, sich aber nicht scheuen, das Material selektiv zu nutzen. Beleidigte Ex-Wikileaks-Mitarbeiter, die zu Talkshowdarlings aufsteigen. Botschafter, die als Spione enttarnt werden. Ein tragischer US-Präsident. Und über allem das Versprechen von ein klein wenig Genugtuung.
Der Autor ist Kulturredakteur im Berlin-Ressort des ND.
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