Werkzeuge der Kritik

Wikileaks und seine Nachahmer als Chance für den Journalismus

  • Jenny Becker
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit unseren derzeitigen Aktionen bestimmen wir das Schicksal der internationalen Medien in den kommenden Jahren.« Man mag Julian Assange Größenwahn vorwerfen, doch mit dieser Einschätzung hat er gar nicht so unrecht. Wikileaks fordert den Journalismus im 21. Jahrhundert heraus. Das Problem ist nur, dass viele diese Herausforderung falsch verstehen – nämlich als Gefahr für die traditionellen Medien.

Sowohl Gegner wie Befürworter der Enthüllungsplattform sprechen von einer Bedrohung des klassischen Journalismus. Der investigative Journalist Hans Leyendecker, Starreporter der »Süddeutschen Zeitung« (SZ), vertritt die These, Wikileaks würde die alten und neuen Medien entzweien. Für ihn stellt sich »Die Systemfrage«. Seriöse Journalisten gegen unreflektierte Hacker, sorgfältig geprüfte Quellen gegen abgezapfte Datensammlungen, so klingt es in seinem jüngsten Artikel in der SZ. Ein Fan von Wikileaks ist er nicht.

Der Journalist Mathias Bröckers hingegen bejubelt Wikileaks in dem Online-Magazin Telepolis als »fünfte Gewalt«, die »die zeitgeschichtliche Türwächterfunktion der Presse obsolet« macht. Das herkömmliche Berufsbild des Journalisten und das Geschäftsmodell der Presse geraten ins Wanken, meint Bröckers. Er schreibt das nicht ohne Genugtuung. Denn den Medien wirft er vor, ihren ursprünglichen Auftrag kaum noch wahrzunehmen, als kontrollierende »vierte Säule« der Verfassung investigativ tätig zu werden. Wikileaks kommt wie ein Engel der Erlösung daher, der endlich Licht bringt in den Sumpf aus Korruption und politischen Machenschaften, den Journalisten selbst nicht mehr durchforsten.

Tatsächlich bleibt im Zeitungsgeschäft immer weniger Raum für langwierige Recherchen. Es fehlt an Geld, Mitarbeitern und Zeit. Schuld an der viel beschworenen Krise des Journalismus ist das Internet, das mit seinen schnellen Nachrichten, den Blogs und kostenlosen Inhalten alteingesessene Zeitungen in die Knie und zum Abbau von Ressourcen zwingt. Es scheint paradox, aber gerade die Möglichkeiten des Internets können den klassischen Journalismus wiederbeleben. Leyendecker und Bröckers übersehen, dass Wikileaks weder Feind noch Ersatz des traditionellen Journalismus ist, sondern seine Chance in digitalen Zeiten.

Mit Whistleblowern, die geheime Informationen preisgeben, hat die Presse schon seit eh und je zusammengearbeitet. Der Informant wies auf Missstände hin. Aufgabe des Journalisten war es, davon ausgehend Recherchen zu betreiben, den Wahrheitsgehalt zu prüfen, das Thema aufzubereiten und einzuordnen. Wikileaks hat es technisch ermöglicht, dass Informanten in nie gekanntem Umfang anonym ihr Wissen preisgeben können. Die handwerklichen Fähigkeiten des klassischen Journalisten, allen voran die sorgfältige Recherche und die Gewichtung von Informationen, sind gefragt wie nie, angesichts der schieren Datenfülle.

Auch Wikileaks hat das erkannt. »Wir brauchen jemanden, der den Zugang zum Material aufmacht – und das sind die klassischen Medien«, hieß es im Sommer 2010, als sich die Organisation zur Zusammenarbeit mit den renommierten Printmedien »Spiegel«, »New York Times« und »Guardian« entschloss. Diese »Exklusivverträge« brachten Wikileaks Kritik ein, auch aus den eigenen Reihen. Zudem sorgte es unter den Mitarbeitern für Unmut, dass Julian Assange eine immer zentralere Rolle einnahm und darüber entschied, welche Geschichten in großem Stil publik gemacht werden sollten. Vor ein paar Monaten verließen einige darum die Organisation.

Demnächst wollen die Abtrünnigen, darunter der ehemalige Deutschlandsprecher Daniel Domscheit-Berg, mit einer eigenen Whistleblower-Plattform online gehen: Openleaks. Brisante Dokumente will man nicht mehr selbst veröffentlichen, sondern lediglich elektronische Briefkästen zur Verfügung stellen. Über diese sollen Informanten anonym mit Kooperationspartnern wie Medien, Gewerkschaften oder Nichtregierungsorganisationen in Kontakt treten können. Wem sie die Dokumente zuspielen, entscheiden die Whistleblower selbst. Wird das Material vom ausgesuchten Partner nicht verwendet, sorgt Openleaks dafür, dass es allgemein zugänglich wird. Aus der Kritik an Wikileaks hat man gelernt und sich neutraler und dezentraler organisiert. Openleaks besitzt weder Entscheidungsmacht noch greift es selbst journalistisch ein – es versteht sich als reiner Dienstleister. Vielleicht wird dadurch die Funktion von Enthüllungsplattformen deutlicher: Sie sorgen für das investigative Material und sind Werkzeuge der Journalisten, nicht ihre Konkurrenz. Darüber hinaus ermöglichen sie es dem Zeitungsleser, sich die Originalquellen anzusehen, auf denen die Artikel basieren. Die Transparenz, zu der die Medien ohnehin verpflichtet sind, kann das nur fördern.

Wikileaks war erst der Anfang. In Indonesien ging die Whistleblower-Plattform Indoleaks online, in China planen Menschenrechtsaktivisten ein Portal namens Government Leaks. »Es wird viele Wikileaks geben, zu unterschiedlichen Themen und Ländern«, prophezeite Josh Benton von der Universität Harvard jüngst auf Zeit Online. Die aktuelle Entwicklung bestätigt das. Und sie zeigt: Aufhalten lassen sich die Enthüllungsportale nicht. Aber nutzen.

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