Möglichst misanthropisch
Bei »2030 – Aufstand der Jungen« malt das Fernsehen ein düsteres Bild der Gesellschaft von morgen
Die Zukunft, so geht das seit den ersten Opfern und Orakeln, entsteht in der Gegenwart. Heute mehr denn je. Schließlich steht der Fortbestand unserer Art auf der Kippe. Doch nicht nur Klimawandel, auch demografischer Knick nach oben und unten, Ressourcenknappheit, Terrorgefahr, Krieg und Armut verdunkeln jede Aussicht. Kein Wunder, dass die Welt von morgen auch im Fernsehen meist unwirtlich gerät.
»November 2030. Ausnahmezustand in Berlin. Mehrere Viertel stehen in Flammen. Seit Tagen randaliert ein aufgebrachter Mob. Menschen sterben« – mit dieser fiktiven Fernsehnachricht leitet das ZDF die nächste Filmvision ein. Sie heißt »2030 – Aufstand der Jungen«, spinnt den vier Jahre älteren »Aufstand der Alten« auf gleichem Kanal fort und weckt dabei wenig Hoffnung auf Besserung der Verhältnisse. Tim (Barnaby Metschurat) ist eines von zehn »Millenniumskindern«, die vom Start des 21. Jahrhunderts an per Kamera begleitet werden. Als er 30 Jahre nach seiner Geburt im Titeljahr einen nationalen Hochsicherheitsserver hackt und danach unter mysteriösen Umständen verschwindet, schließlich für tot erklärt wird, stößt die Journalistin Lena Bach (Bettina Zimmermann) wie schon beim »Aufstand der Alten« bei ihrer Recherche auf ein System aus fehlender Vorsorge heutiger und folgerichtiger Verelendung künftiger Generationen, dem auch Tim zum Opfer fällt. Trotz aller Chancen einer bürgerlichen Jugend.
So sieht das Leben der Zukunft via TV also aus: Bildung, Wirtschaft, Rente, Kultur, Wohlstand, Umwelt, Glücksversprechen – alles im Eimer. Nur die Überwachungs-, Touchscreen-, Sicherheits-, Pharma- und Chipindustrie verdient weiterhin bestens. »Wer die Horrorszenarien höher schraubt«, glaubt der zuständige ZDF-Redaktionsleiter Heiner Gatzemeier, »bringt die Menschen zum Nachdenken«. Und damit es auch noch zum Handeln anregt, ergänzt Hauptdarstellerin Lavinia Wilson, im im Film Tims Jugendliebe Sophie spielt, sei ein »möglichst misanthropisches Bild« hilfreich.
Nur: Wie wahrscheinlich ist es? Regen lässt sich kaum 36 Stunden verlässlich vorhersagen, nichts ist älter als die Zeitung von gestern. Trotzdem hat der Konjunktiv Konjunktur. Wirft doch selbst die pessimistischste Prophezeiung einen kleinen Anker der Berechenbarkeit Richtung Zukunft. Auch wer sich abends nicht per Pilcher & Traumschiff schnulzenbenebelt aus dem Alltag schießt, sucht ja im Bedrohungscocktail aus Islamismus, Gentechnik, Google-Streetview, Umweltkatastrophen, Schurkenstaaterei nach ein wenig Berechenbarkeit. Nach Heimat vielleicht, Familie, Werten. Wenigstens nach einem Happy End.
Das erlebt (mit Abstrichen) natürlich auch »2030«. Die neueste Version des Genres bleibt aber trotz des überschaubaren Zeitsprungs von kaum zwei Jahrzehnten dennoch pure Hypothese. So wie das fortschrittshörige Dokudrama »2057«, in dem das ZDF die Zukunft zuvor als durchaus kompliziert, aber technisch doch stets regulierbar darstellte.
»2030« dagegen, meint der zukunftsforschende Politologe Wolfgang Gründinger, der das Projekt begleitet hat, spiele eher mit Fakten, als sie wirklich auszuarbeiten. Wenn das innerstädtische Schöneberg aller Gentrifizierung zum Trotz nicht wie derzeit üblich aufgewertet, sondern künftig zum Slum namens »Höllenberg« abgewrackt wird, tauge das eher zum Schmunzeln als als Anregung. Zumal es von blutjungem Szenepublikum durchweg deutscher Abstammung bevölkert wird. Überalterung, Migration? Unfotogen! Mit derlei Ausstattungspatzern verliert sich Regisseur Jörg Lühdorffs Prognostik im Auftrag der Ziegler-Film in ästhetischen Mätzchen, statt wirklich utopisch zu werden. Wie so viele vor ihm, im boomenden Fach zeitnaher Science Fiction.
Seit Jahrhunderten etwa hält sich das Anzugrevers hartnäckig als Stilkonstante; in der ARD-Überwachungsfantasie »Alpha 0.7« klappt es 2017 überall empor. Die Regisseure der ZDF-Reihe »Agenda 2020« verkaufen Organe auf Flohmärkten und züchten Kinder im Labor. Bei »2030« lösen Science-Fiction-Schriften die ehernen Arial- oder Times-Typen ab. Und in Lars Kraumes Kinofilm »Die kommenden Tage« wird Island nach der Krise zur Knastinsel. Dass Autos, Frisuren, Sprache dabei seltsam unverändert bleiben, macht visionäres Fernsehen endgültig zum kreativen Prognose-Pop einer digital aufgemotzten Jetztzeit, mehr Computerspiel als Langfristprognose.
Und doch hat der Kaffeesatz seit ein paar Jahren ausgedient. Vom Stammzellendrama »Monte Sana« (Arte) über »2057« bis hin zum Meteoriteneinschlagsszenario »Armageddon« im Zweiten folgt das Medium mittlerweile lieber fachlicher Beratung als bloß der Fantasie. Das unterscheidet es von Endzeitfiktionen wie »The Day After Tomorrow«, wo der Golfstrom über Nacht versiegt. Zumindest öffentlich-rechtliche Science Fiction wagt so den Nachhaltigkeitstest auf die Gegenwart.
ZDF, 20.15 Uhr
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