Es splittert
Leseglück: Debüt von Isabel Ashdown
Das Ende der Kindheit ist ein schleichender Prozess und wird heute auch gern mal über das Verfallsdatum hinaus verlängert. Für den dreizehnjährigen Jake und seinen kleinen Bruder Andy aber gehen die Jahre der Unschuld schneller vorbei, als sie mit dem Wachsen nachkommen: Ihre Eltern Mary und Billy trennen sich, der Traum vom romantischen Glück ist zerplatzt. Äußerlich soll möglichst alles beim Alten bleiben, man wahrt die Fassade, hält freundschaftlichen Kontakt. Doch im Innern des kleinen Familienzirkels leidet jeder still vor sich hin.
Vor allem Mary, tief verletzt und von der Angst beherrscht, einer Lebenslüge aufgesessen zu sein, kapselt sich ab und versinkt wochenlang in der einsamen Welt des Alkoholrauschs. Jake sieht sich gezwungen, einen Wochenendjob anzunehmen – dabei lasten auf seinen kindlichen Schultern bereits die Bürden des Alltags: Haushalt, Pflege der Mutter, Verantwortung für den Bruder.
Hoffnung, alles könne sich doch noch zum Guten wenden, keimt auf, als Marys Schwester Rachel Kontakt zur Familie aufnimmt. Nach Jahren des Schweigens finden die Schwestern zur alten Vertrautheit zurück. Mary entsagt dem Alkohol, blüht sichtlich auf, selbst das Verhältnis zu Billy entspannt sich. Dann wird per Zufall ein lang gehütetes Familiengeheimnis gelüftet und die Katastrophe, auf die das Drama von Beginn an zusteuert, scheint nicht mehr aufzuhalten.
Auch wenn die Welt klein ist, die Isabel Ashdown uns vorführt – der dramatische Spannungsbogen ist bis zum Anschlag gespannt: Abwechselnd mit ihrem Sohn Jake, der aus dem letzten Jahr seines Lebens berichtet, erzählt Mary von sich in Rückblenden, die mit ihrer behüteten Kindheit in Südengland Ende der sechziger Jahre beginnen, und bis in die Gegenwart reichen. »Am Ende eines Sommers« ist ein Roman in Erzählungen, ein Mosaik aus Splittern. Erst zum Finale liegt Marys Geschichte als Ganzes vor uns. Indem die Autorin geschickt das Genre Roman mit dem der Erzählung verquickt, entsteht ein treffend hin- und her flirrendes Bild vom fragilen Zusammenhang der Welt.
In der englischsprachigen Literatur unterscheidet man zwischen plot-driven und character-driven – Ashdowns Buch ist mit seinen vielschichtigen Figuren der Prototyp des Letzteren. Die Autorin sucht im Roman nicht die große Kunst, sie sucht ein Abbild des Lebens. Und so leuchtet »Am Ende eines Sommers« viele Formen menschlichen Verhaltens dicht und erfahrungssatt aus: Niedertracht und Launen, versäumte Gelegenheiten, unterdrückte Gefühle, Herzensträgheit und Lügen, doch auch die unerwarteten, kostbaren Glücksmomente. Das Wunderbare und das Schreckliche des Alltäglichen gehen hier Hand in Hand. Solche Dutzenderlebnisse fesselnd, luzide und transzendent auf das Allgemeingültige hin zu erzählen, macht die Größe dieses Romans aus. Mit ihrem Debüt ist der Autorin ein Streich gelungen, wie einst dem tapferen Schneiderlein.
Isabel Ashdown: Am Ende eines Sommers. Aus dem Englischen von Rainer Schmidt. Eichborn Verlag. 352 S., geb., 19,95 €.
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