Mit Seitenblick auf den Stammtisch
Bei einer mündlichen Verhandlung zeigt Karlsruhe Sympathie für die Sicherungsverwahrung
Würden die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) direkt auf die vier Sicherungsverwahrten angewendet, über deren Beschwerde Karlsruhe entscheiden muss, würden sie freigelassen. Denn sowohl die rückwirkende potenziell lebenslange Verlängerung einer zehnjährigen Sicherungsverwahrung als auch deren nachträgliche Anordnung widerspricht dem Verbot rückwirkender und doppelter Bestrafung. Darauf wiesen gestern die Anwälte der Beschwerdeführer nachdrücklich hin.
Karlsruhe rügt Straßburg
Das gelte aber nur fürs Strafrecht, so spitzfindige deutsche Juristen. Sicherungsverwahrung dagegen sei eine »Maßregel der Besserung und Sicherung«. Damit rechtfertigten die Verfassungsrichter schon 2004, dass die Aufhebung der Zehn-Jahres-Frist auch auf vor der Verschärfung Verurteilte angewendet wurde. Doch die EGMR-Richter erkannten dies nicht an.
Die Begründung hatten Inspekteure des Europarates in deutschen Gefängnissen gefunden. Zwischen Gefangenen und Verwahrten gibt es dort meist nur einen Unterschied: Letzteren droht das »Kinderschänder«-Verdikt von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD): »Wegsperren, und zwar für immer!«
Deshalb keilt Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle in zwei Richtungen: Seinen Kollegen in Straßburg warf er vor, das Recht der Bürger auf Schutz unterzubewerten, das ja auch in der EMRK verankert sei. Bund und Ländern kreidete er die »Ausgestaltung« der Sicherungsverwahrung an, besonders den Mangel an Therapieangeboten, die Karlsruhe in dem Urteil von 2004 gefordert hatte.
Auch Bundesjustizministerin Sa-bine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) findet, dass Deutschland »durch das duale System von Strafe und Maßregel eine gute Balance« habe. Grundgesetz und Menschenrechtskonvention widersprächen sich auch in den vier verhandelten »Altfällen« nicht unbedingt. Das Therapie-Unterbringungsgesetz, das es seit Jahresbeginn ermöglicht, Sexual- und Gewalttäter nach der Haft in geschlossenen Einrichtungen zu therapieren, biete zusätzliche geeignete Maßnahmen.
Gesetz ohne Anwendung?
Das bezweifelt etwa Prof. Jörg Kinzig, der einen der Beschwerdeführer vertritt. Es werde für das Gesetz »kaum Anwendungsfälle geben, vielleicht keinen einzigen«. Die Voraussetzungen seien »kaum erfüllbar«. Außerdem sei das Bundesgesetz womöglich verfassungswidrig, da für Prävention die Länder zuständig seien.
Bundesrichter a. D. Wolfgang Neskovic, Rechtsexperte der Linksfraktion, fordert deshalb eine Umkehr. Bei der Sicherungsverwahrung schiele die Politik auf den Stammtisch – und nun missbrauche »die Bundesregierung das Bundesverfassungsgericht« als Ausputzer. Angesichts der EGMR-Rechtsprechung sei es nötig, »die ursprüngliche Gesetzeslage wieder herzustellen: die bis 1998 geltende 10-Jahres-Höchstdauer der Sicherungsverwahrung wieder einzuführen und die 2004 eingeführte nachträgliche Sicherungsverwahrung abzuschaffen.«
Deren Beibehaltung forderte gerade gestern Niedersachsens Innenminister Bernd Busemann (CDU). Und das Hamburger Oberlandesgericht bestätigte ebenfalls gestern ein entsprechendes Urteil.
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