»Meine Kaste ist indisch«

Regierung in Delhi sticht bei der Volkszählung in ein Wespennest

  • Hilmar König
  • Lesedauer: 3 Min.
Dagegen, dass 1,2 Milliarden Inder durch eine Volkszählung erfasst werden, gibt es kaum Einwände. Die Erfassung der Kastenzugehörigkeit, die die Regierung im Juli beginnen will, wird allerdings kontrovers diskutiert.

Die zweite Phase der Volkszählung in Indien ist seit dem 9. Februar in vollem Gange. Auf Fragebögen haben die Bürger über Familiengröße, Beschäftigung, Bildungsstand und anderes Auskunft zu geben. In der ersten Phase waren im vorigen Jahr Häuser und Behausungen erfasst worden.

Zensuskommissar C. Chandramouli gab bekannt, dass rund 2,7 Millionen Zählbeamte, fast alle Lehrer, im Einsatz sind, um die in 16 Sprachen verfassten Fragebögen unter den mindestens 1,2 Milliarden Indern zu verteilen und wieder einzusammeln. Die Auswertung in den nächsten Monaten wird elektronisch vorgenommen. Chandramouli sprach von einer gigantischen logistischen Herausforderung. Es ist die 15. Volkszählung in der Geschichte Indiens. Damit begonnen hatten die britischen Kolonialherren im Jahre 1872.

Zum Zensus 2011 besteht Einmütigkeit. Ganz anders verhält es sich jedoch mit der Kastenzählung, die zwischen Juli und September erstmals seit 80 Jahren stattfinden soll. Als Rufe nach einer solchen Erfassung laut geworden waren, lehnte die Koalitionsregierung der Vereinten Progressiven Allianz zunächst ab. Dass man im unabhängigen Indien bisher auf einen Kastenzensus verzichtete, hatte gute Gründe. In der Verfassung ist Kastendiskriminierung untersagt, praktisch existiert sie freilich noch, und deshalb wollte keine Regierung im »Wespennest« des Kastenwesens herumstochern. Immer wieder kommt es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen verschiedener Kasten.

Doch die Regierung unter Premier Manmohan Singh und Innenminister Palaniappam Chidambaram gab dem Druck von Regionalparteien nach. Sie verlangten die Zählung, damit endlich ein klares Bild über die am meisten entrechteten und diskriminierten unteren Kasten entstehe. Dadurch erhielten die Behörden ein Instrument, bedürftige Bevölkerungsschichten gezielt zu fördern, wurde argumentiert. »Kasten sind eine Realität im Land, die nicht ignoriert werden darf«, erklärte der Chef der Rashtriya Janata Party (RSP), Lalu Prasad Yadav. Deshalb sei die Zählung notwendig. Auch in Regierungskreisen glaubt man inzwischen, zwecks Planung sozialer Maßnahmen für das Millionenheer der Armen wäre ein fundierter Überblick über die Kastenstruktur hilfreich.

Aber auch Widerstand ist unübersehbar. Die Kastenzählung helfe Politikern nur, »sich ein Reservoir an Wählerstimmen zu sichern, um an der Macht zu bleiben«, glaubt Surinder Nath, Professor für Anthropologie an der Delhi University. Es sei unwahrscheinlich, dass sich dadurch für die Benachteiligten etwas bessern würde. Eher könne die Zählung zu mehr sozialen Konflikten führen.

Einstige Beamte, Juristen und Journalisten, Sozialaktivisten und Geistliche haben eine Bewegung »Meri Jaati Hindustani« ins Leben gerufen. Sie rät, in die Fragebögen einzutragen: »Meine Kaste ist indisch.« Ihre Mitglieder sind davon überzeugt, dass sich das ganze Unterfangen auf »Einheit, Integrität und Prosperität Indiens verheerend auswirken« wird. Andere Kritiker sprechen von der »Zerstörung der nationalen Einheit«, von der schlimmsten Volksbefragung in der indischen Geschichte, die noch mehr soziale Ungleichheit zur Folge haben werde.

Die seit 20 Jahren praktizierte Marktwirtschaft und verschiedene politische Maßnahmen, darunter Quoten für Angehörige bestimmter Kasten und Stämme in staatlichen Betrieben und Bildungseinrichtungen, haben den Einfluss des über 3000 Jahre alten hinduistischen Kastensystems in den Großstädten reduziert. Aber auf dem Lande, wo rund 70 Prozent der Bevölkerung leben, spielt es nach wie vor eine bestimmende Rolle, auch in der Bildung und bei der Sicherung des Lebensunterhalts. Da kommt es auch noch zu krassen Fällen von Kastendiskriminierung.

Bereits 1980 identifizierte eine Kommission 3743 Kasten und Unterkasten allein in der Bevölkerungsschicht, die offiziell als »Andere Rückständige Klassen (OBC)« registriert ist. So kommt auf die Expertengruppe, die mit der Auswertung dieser Zählung beauftragt wird, eine Sisyphusarbeit zu. Zumal man die Angaben über die Kastenzugehörigkeit ohnehin kaum verifizieren kann, wie Gegner des Unternehmens anmerken. Deshalb bleibe das Resultat zweifelhaft. ND-Karte: W. Wegener

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.