Keine Pillen für Ungeborene
Neue Studie warnt Schwangere vor rezeptfreien Schmerzmitteln
Fruchtbarkeitsprobleme bei Männern nehmen in vielen Industrieländern seit Jahrzehnten zu. In Dänemark stieg der Anteil der neugeborenen Jungen mit Kryptorchismus, einer Form von Hodenhochstand, zwischen den Jahren 1960 und 2000 von 1,8 auf 8,5 Prozent. Kryptorchismus steigert das Risiko für Zeugungsprobleme und Hodenkrebs.
Als eine Ursache zunehmender Unfruchtbarkeit verdächtigen Forscher Inhaltsstoffe von Plastik, die ähnlich wirken wie das weibliche Sexualhormon Östrogen – etwa die zum Weichen von Kunststoff verwendeten Phthalate. Einen neuen Verdächtigen will nun das dänisch-finnisch-französische Forscherteam ermittelt haben: Rezeptfreie Schmerzmittel wie Aspirin, Ibuprofen oder Paracetamol. Die Forscher befragten etwa 830 schwangere Däninnen zur Einnahme solcher Medikamente. Auf den ersten Blick erschrecken die in der Zeitschrift »Human Reproduction« vorgelegten Resultate: Bei gleichzeitigem Gebrauch von mehr als einem rezeptfreien Schmerzmittel stieg bei neugeborenen Jungen das Risiko für Hodenhochstand um das Siebenfache. Besonders empfindlich reagieren Babys demnach auf die Mittel im zweiten Schwangerschaftsdrittel: Hier trieb eine Schmerzmittel-Kombination die Gefährdung um den Faktor 16 in die Höhe. Während dieser Phase erhöhten auch einzelne Mittel das Risiko im Mittel um mehr als das Doppelte. Ibuprofen und der Aspirin-Wirkstoff ASS (Acetylsalicylsäure) vervierfachten die Wahrscheinlichkeit.
Forschern der Universität Rennes zufolge senken solche Medikamente in hoher Dosis die Produktion männlicher Sexualhormone wie Testosteron über bestimmte Botenstoffe, die Prostaglandine. Man sollte die Einnahme leichter Schmerzmittel während der Schwangerschaft stärker beachten, fordert Studienleiter Henrik Leffers vom Rigshospitalet in Kopenhagen und plädiert für Warnungen auf der Verpackung.
Der Berliner Embryonaltoxikologe Christof Schaefer hält die dänische Studie für überbewertet. Dass Ibuprofen oder ASS Prostaglandine hemmen, sei bekannt. Damit sei der Effekt von Paracetamol aber nicht vergleichbar. Auch die geringe Zahl der betroffenen Kinder, so der Experte, reiche für die Warnung der Forscher bei Weitem nicht aus. Schaefer verweist darauf, dass eine frühere, weit größere dänische Studie zu anderen Ergebnissen kam. »Mich überrascht, mit welcher Eindeutigkeit diese Resultate präsentiert werden«, betont er. Die Andrologin Sabine Kliesch vom Uniklinikum Münster bemängelt das Versäumnis, den bei den Kindern festgestellten Kryptorchismus zu definieren. Denn nicht jeder Hodenhochstand bei der Geburt bedroht die spätere Fruchtbarkeit. Oft bessert sich das Problem in den folgenden Monaten von allein. Auch die Tierexperimente, bei denen die französischen Toxikologen extrem hohe Dosierungen verabreichten, überzeugen die deutschen Experten nicht. Es gebe viele Ungereimtheiten.
Viele Schwangere greifen bei Beschwerden gerade zu den genannten Schmerzmitteln. In der Studie hatten 57 Prozent der befragten Däninnen solche Präparate genommen, offenbar in dem Glauben, ein Medikament ohne Rezeptpflicht sei unbedenklich. In Deutschland dürfte die Einnahme ähnlich verbreitet sein. »Schwangere sollten so wenige Medikamente wie möglich nehmen«, betont Kliesch. Andererseits sei es für das Kind nicht ratsam, wenn sich die Mutter tagelang mit Schmerzen quäle, mahnt der Berliner Embryonaltoxikologe Christof Schaefer. Als Schmerzmittel der Wahl für Schwangere gilt Paracetamol. Von dem Aspirin-Wirkstoff Acetylsalicylsäure (ASS) raten Experten dagegen wegen des erhöhten Blutungsrisikos ab. Ibuprofen kommt zwar in der frühen Schwangerschaft als Schmerzmittel infrage, sollte aber ab der 30. Woche gemieden werden. In jedem Fall sollten Schwangere solche Mittel ohne Rücksprache mit einem Arzt nicht länger als einige Tage nehmen, mahnt Schaefer.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!