Noch eine Geschichte, bitte!

ZSUZSA BÁNK: »Die hellen Tage« – berührend schön

  • Lilian-Astrid Geese
  • Lesedauer: 3 Min.

Kirchblüt, eine Kleinstadt bei Heidelberg. Provinzalltag in den 1960er Jahren. Terese, genannt Seri, lebt dort. Mit ihrer Mutter Maria, die jung verwitwet die Spedition ihres Mannes Hannes Bartfink in Kirchblüt weiterführt. In Kirchblüt geht alles bedächtig seinen Gang. Die Dinge ändern sich nicht, auch wenn das Schicksal eingreift. Zwanzig Jahre fährt Maria den Koffer ihres verstorbenen Gatten ungeöffnet auf dem Beifahrersitz ihres Autos durch die Landschaft. Die Vergangenheit interessiert sie nicht. Und eine Zukunft scheint es nicht zu geben. Zunächst jedenfalls.

Doch dann frischt eine Brise auf über dem Neckar. Plötzlich sind sie da: Eva Kalócsz (Évi), die Ungarin mit dem harten Akzent und den unbändigen Locken, und Aja, ihre zierliche Tochter mit nur acht Fingern. Ein paar Monate im Jahr lässt sich auch Ajas Vater Zigi in Kirchblüt blicken. Die übrige Zeit lebt der Trapezkünstler in New York und schreibt Briefe, die »nach Amerika riechen«.

Auch Karl taucht irgendwann auf. Etwas später, doch ebenso unerwartet. Bislang lebte nur Ben, sein Bruder, beim gemeinsamen Vater in Kirchblüt. Doch nun ist Ben verschwunden, vermutlich Opfer eines Verbrechens, und so siedeln Karl und seine Mutter Ellen um in die scheinbare Idylle, in der sich ihr Ex-Mann nun aus Trauer hinter ständig geschlossenen Fensterläden verbarrikadiert.

Drei Kinder, drei Frauen, deren Schicksale sich im Lauf der Jahre miteinander verweben, die zu sich und zueinander finden – in Kirchblüt, Heidelberg und Rom. Aus der kleinen Artistin und Eisprinzessin Aja wird eine Ärztin. Karl wird Fotograf, Seri Übersetzerin. Ihre Mütter werden enge Freundinnen, über alle »Klassenschranken« hinweg, und lernen, sich den Wahrheiten ihres Lebens – und ihrer Ehen – zu stellen. Es passiert viel in Zsuzsa Bánks lebendigem Roman »Die hellen Tage«, der an einen Spaziergang auf einem Feldweg durch das hohe Gras erinnert, denn man weiß nie, was einen hinter der nächsten Biegung erwartet. Die Vielfalt der Ideen und Erzählstränge in diesem Roman lassen die Leserin wünschen, er möge gar nicht enden: Noch eine Geschichte, bitte! Und noch eine! Evi lernt lesen, Karls Vater öffnet die lange verschlossenen Fensterläden, Ellen trifft Jakob (wieder), Maria verkauft Hannes' Bücher, Libelle erscheint auf der Bildfläche …

Zszuzsa Bánk zieht ihre Leser emotional in ihren Bann. Ihre Helden und Heldinnen erzählen von Kindheit, Jugend, Älterwerden, Hoffnung, Angst, Resignation und Mut und bringen sie zum Lachen und Weinen. Man liest, man verliebt und entliebt sich, sucht nach Orientierung, verliert sich. Doch niemals gibt man (sich) auf. Niemals geht man so ganz. Selbst nicht am Ende, als unaufhaltbar das Rationale dem Irrationalen weichen muss.

Evis Lebensmotto »Die hellen Tage behalte ich, die dunklen gebe ich dem Schicksal zurück« steht über der kruden Realität, so wie das »wahre Leben« von Aja, Seri und Karl schon immer weit über die pure Wirklichkeit in einer süddeutschen Kleinstadt hinausging. Und sei es nur für sie selbst.

Zsuzsa Bánk schreibt berührend schön. Mit zärtlichen Worten lässt sie literarische Welten entstehen und zusammenfallen, um sie an anderer Stelle wieder aufzubauen. Man liest und spürt das kühltrübe Wasser des Weihers, in das Aja stürzt, als ihr das oft geübte Kunststück mit dem Fahrrad einmal nicht gelingt; man riecht die duftende Viktoriatorte, die Evi am liebsten bäckt; es kribbelt der Hitzestaub Roms in der Nase, wenn man in Gedanken mit Karl auf dem Küchenfenstersims sitzt und zuschaut, wie die südliche Nacht die Stadt einfängt. Ein Roman wie eine Stola, die man sich umlegt, weil es spät wird im Garten und man die Wärme des Tages noch ein bisschen länger fühlen will.

Zsuzsa Bánk: Die hellen Tage. Roman. S. Fischer. 542 S., geb., 21,95 €.

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