Weder Krieg noch Frieden

DAS ERSTE JAHR DER SOWJETMACHT

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 3 Min.

Nicht durch Putsch oder eine Verschwörung, sondern »aufgrund ihrer Sensibilität für die Lebensinteressen der Bevölkerungsmehrheit und ihrer engen Beziehungen zu Arbeitern, Soldaten und Matrosen«, betont Alexander Rabinowitch, konnten die Bolschewiki im November 1917 die Macht in Russland erobern. Der US-amerikanische Historiker mit russischem Familienhintergrund reflektiert in seiner bemerkenswerten, voluminösen und verdienstvollen Studie die wesentlichen Ereignissen des ersten Revolutionsjahres.

Umfänglich und so ernsthaft wie noch kein Historiker vor ihm beantwortet er vielen noch heute rätselhaft erscheinende Fragen: Wie konnte die demokratische und tief in der Bevölkerung verankerte bolschewistische Partei zu einem der autoritärsten Machtapparate des 20. Jahrhunderts werden? Und warum scheiterten letztlich der Aufbau einer sozialgerechten Gesellschaft und basisdemokratischen Rätemacht?

Rabinowitch macht darauf aufmerksam, dass die Bolschewiki keine monolithische Partei darstellten und anfänglich demokratisch strukturiert waren, weshalb sie denn auch politisch erfolgreich agierten. Die Linken unter Lenin und Trotzki, die um die fehlenden ökonomischen Voraussetzungen für einen sozialistischen Umbau Russlands wussten, sahen in der Machtergreifung nur den Auftakt der erhofften sozialistischen Weltrevolution. Die Gemäßigten unter Kamenew, deren Rolle bisher die Historiografie kaum beachtete, setzten nicht auf einen globalen Formationswechsel; sie orientierten auf eine schrittweise sozialökonomische Umgestaltung Russlands durch die Bildung einer demokratischen Sowjetregierung unter Einschluss aller sozialistischen Parteien sowie Akzeptanz freier und demokratischer Wahlen.

Die Niederlage der gemäßigten Bolschewiki ermöglichte die Auflösung der Konstituante im Januar 1918 und der politischen Partnerschaft mit linken Sozialrevolutionären, den Interessenvertretern der Bauernschaft. Dadurch wurde das entstehende Rätesystem, das Lenin selbst gefordert hatte, letztlich durch eine autoritäre Einparteienherrschaft der Bolschewiki ersetzt. Der vor allem von Lenin verhinderte Übergang zur parlamentarischen Demokratie stieß bei der Mehrheit der Bevölkerung interessanterweise kaum auf Widerstand.

Ausführlich befasst sich Rabinowitch mit den Auseinandersetzungen um den Abschluss des Separatfriedens mit Deutschland, dem sogenannten Frieden von Brest-Litowsk im März 1918. Trotzkis Konzept »Weder Krieg noch Frieden« hatte bei der Mehrheit der Bolschewiki und Sozialrevolutionäre zunächst breite Akzeptanz gefunden. Der Vormarsch der deutschen Truppen im Februar 1918 aber veränderte die bisherige Haltung, so dass Lenins Forderung nach sofortiger Unterzeichnung des deutschen Diktats möglich wurde. Der Autor widerlegt auch den Mythos von der heldenhaften Verteidigung Petrograds durch die bolschewistische Partei- und Staatsführung; im Gegenteil, diese ist in hoffnungsloser Lage im März 1918 überstürzt nach Moskau geflohen.

Ungeschönt beschreibt Rabinowitch die katastrophale soziale und wirtschaftliche Lage im ersten Jahr der Sowjetmacht, schildert die Enttäuschung der Arbeiter und Matrosen, die Niederschlagung der gemäßigten sozialistischen Opposition, die Unruhen in Betrieben und in der Baltischen Flotte und die Zwangseintreibung bäuerlicher Produkte. Als Hauptursache für den folgenden bolschewistischen Massenterror sieht er die beginnende britisch-französische Intervention in Kooperation mit der inneren Konterrevolution.

Der Band schließt mit den Feierlichkeiten zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution und der Frage nach dem Preis der Revolution.

Alexander Rabinowitch: Die Sowjetmacht. Das erste Jahr. Mehring-Verlag. 500 S., geb., 34,90 €.

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