Evakuieren ist das Gebot der Stunde
Gebiete in mehr als 400 Kilometer Entfernung könnten stark kontaminiert werden
In Fukushima drohen gleich mehrere Reaktoren, jeder mit mehr als 1000 Megawatt Leistung, ihr radioaktives Inventar freizusetzen. Im Gegensatz zu Tschernobyl gäbe es bei einem Super-GAU in Japan keinen Grafitbrand, der zu starken Aufwinden führte und radioaktive Partikel auch über große Distanzen exportierte. Wegen der niedrigeren Freisetzungshöhe von etwa 150 Metern würden diese Stoffe je nach Windrichtung und Niederschlagsgebieten im Umkreis von wenigen hundert Kilometern konzentriert niedergehen. Damit besteht aber auch die Gefahr weit höherer radioaktiver Belastung in diesem Gebiet als vor knapp 25 Jahren in der Sowjetunion. Wenn mehrere Reaktoren maximale Mengen freisetzen, steigert sich dieses Potenzial dramatisch.
Letztlich gibt es vor der atomaren Strahlung nur einen wirksamen Schutz: Es muss großräumig evakuiert werden. Stark verstrahlte Gebiete sind im Umkreis von mindestens 400 Kilometern zu erwarten, entsprechend möglicher Windrichtungen. In Belarus existieren noch in diesem Radius Gebiete, die ähnlich hoch belastet sind wie in der Sperrzone. Evakuierung in Japan erscheint auf den ersten Blick aussichtslos angesichts von mehr als 50 Millionen Menschen, die betroffen wären; allein im Großraum Tokio sind es 35 Millionen. Jedoch nur eine Zone von 20 Kilometern zu evakuieren, ist geradezu abenteuerlich.
Seit dem Wochenende verstrich wertvolle Zeit ungenutzt. Man hätte beginnen können, insbesondere Kinder und Jugendliche als erstes nach Südjapan oder auf die Nordinsel Hokkaido in die »Ferien« zu schicken. Schwangere müssen aus der Gefahrenzone. Wenn die Regierung ihre Mitbürger in den weniger gefährdeten Landesteilen bitten würde, je ein Zimmer für Menschen aus den betroffenen Regionen zur Verfügung zu stellen – das wäre eine unkonventionelle, aber praktikable Möglichkeit, um nicht nur auf Schulen und Turnhallen angewiesen zu sein und würde in dieser akuten Notsituation sicher von vielen akzeptiert.
Zug um Zug ließen sich zuerst die gefährdetsten Bereiche ringförmig um den AKW-Komplex evakuieren – 40, 60 Kilometer usw. Geordneter Rückzug kann helfen, unkontrollierbare Panik zu mindern. Die USA empfehlen beispielsweise eine größere Evakuierungszone, raten ihren Bürgern, das Gebiet in 80 Kilometer Umkreis zu verlassen.
Alle Möglichkeiten effektiven Transports wären in großem Maßstab zu mobilisieren, auch angesichts knappen Treibstoffs. Armee, Busunternehmen, die Bahn, soweit noch intakt, müssten versuchen, Tag und Nacht so viele Menschen wie möglich aus der Gefahrenzone zu bringen. Schiffe auf der vom Tsunami nicht geschädigten Westseite Japans sind einsetzbar. Hilfsangebote, nach Korea oder Russland auszureisen, sind sinnvoll. Allein wenn es gelänge, 5 bis 10 Millionen Menschen in relativ sichere Gebiete zu bringen, wäre dies eine beachtliche Leistung.
Kommt die radioaktive Wolke, müssen sofort die Medien informieren. Dann ist vorübergehend der sicherste Aufenthalt in einem luftdichten Keller. Auch Jodtabletten, die ohnehin nur gegen eine Krebsart helfen, wird man nicht vorab überall verteilt bekommen. Ist ein Super-GAU eingetreten, wird es wichtig, kontaminierte Nahrungsmittel aus dem Verkehr zu ziehen, der hauptsächliche Weg bei der Aufnahme von Radionukliden. Hierbei könnte internationale Hilfe die Situation entschärfen. Selbst wenn ein Großteil der radioaktiven Wolke über den Ozean abtreibt, wird es große Gebiete geben, die komplett entsiedelt werden müssen. Dies nicht konsequent genug zu tun, hieße unzählige gesundheitliche Spätschäden in Kauf zu nehmen.
Vom Autor erschienen:
Täuschungsmanöver Atomausstieg? Über die GAU-Gefahr, Terrorrisiken und die Endlagerung. Edition Zeitsprung, Berlin 2007
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