Clownsnasen genügen nicht
Leipziger Buchmesse: eine japanische Malerin, Erlebnisse in Tschernobyl und Jutta Ditfurths Zorn
Von der Katastrophe, die ihre Heimat heimsuchte, erfuhr Aya Onodera aus dem Fernsehen. Sie wollte nicht glauben, was sie sah. »Ich habe die Bilder nicht mit meiner Stadt in Verbindung bringen können«, sagt die 26-Jährige, die gerade ihr Studium an der Universität der Künste Berlin beendet hat. Sie stammt aus Kesenuuma, Region Miyagi an der Ostküste Japans. Erst als sie auf dem Bildschirm die Fischfabrik, in der ihr Vater arbeitete, brennend sah, wusste sie: Ein Albtraum ist Wirklichkeit. »Ich habe versucht, meine Familie zu erreichen, mit dem Handy, per E-Mail. Nichts.«
Drei Tage Ungewissheit. Drei Tage saß Aya vor dem Computer, fiebernd nach Informationen. Doch die fand sie im Netz nicht. »Ich habe drei Tage geweint.« Dann endlich der erlösende Anruf des Vaters: »Einzelnes Glück im Unglück vieler: Die Familie lebt.«
Die junge Malerin bot auf der Leipziger Buchmesse ihre Werke für eine kleine Spende an: Stimmungsbilder, Aquarell-gleich, in Öl auf Leinwand oder auf Papier. Japanische Schriftzeichen zieren manche Zeichnungen.
Das Weltthema dieser Tage bestimmte auch die Messe. Am Stand der Wochenzeitung »Freitag« stellte Merle Hilbk ihr Buch vor – »Tschernobyl Baby. Wie wir lernten, das Atom zu lieben« (Eichborn, 280 S., geb., 17,95 Euro). Die Journalistin, »in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen mit der Angst vor der Atomkraft«, hat Belorussland und die Ukraine bereist, auf der Suche nach den Kindern von Tschernobyl. Mascha, ihre Dolmetscherin und alsbald Freundin, ist 1986 drei Tage nach dem GAU an der Sperrzone gezeugt worden. »Wo die Katastrophe geschah, war die Angst am kleinsten«, bemerkt die Autorin und vermutet ähnliche Abwehrmechanismen heute in Japan.
In Belorussland ist Tschernobyl noch immer ein Tabu, »es wird nicht darüber gesprochen«. Und in der Ukraine, in der sich nach dem Unglück eine Bürgerrechtsbewegung formiert hatte, ging die kritische, mahnende Erinnerungskultur inzwischen im Rausch kapitalistischer Verführungen unter. Tschernobyl ist trotzdem noch immer gegenwärtig – »in den grünlich-weißen Gesichtern der Kinder«, wie Merle Hilbk beobachtete. Dankbar seien die Betroffenen damals der Bundesrepublik und der DDR gewesen, die strahlengeschädigten Kindern Kur- und Ferienaufenthalte boten. Diese schnelle, uneigennützige Hilfe in Zeiten des Kalten Krieges habe die starken Ressentiments gegen Deutsche, deren Väter und Großväter 1941 die Sowjetunion überfallen und ein Viertel der belorussischen Bevölkerung ausgelöscht hatten, aufgelöst oder wenigstens stark gemindert.
»Völlig irrwitzig« nennt Merle Hilbk die »Kriegsspiele« in der Sperrzone, die US-Amerikaner veranstalten – ausgerüstet mit Geigerzählern und Paintball-Waffen. Es gilt als Mutprobe, sich weiter mit Farbe zu beschießen, wenn das Strahlenmessgerät schon bedrohlich laut piepst.
Skurril auch die Situation in Deutschland: Kaum sind sieben altersschwache AKWs – wenn auch nur kurzzeitig – abgeschaltet, schon bricht ein Rechtsstreit aus. »Jedes AKW ist eine schlafende Atombombe«, warnt Jutta Ditfurth und fordert: »Schaltet sie alle ab!« Im Sachbuchforum auf der Messe übte die Anti-AKW-Aktivistin der ersten Stunde und Buchautorin (»Krieg. Atom. Armut«, Rotbuch, 288 S., br., 15,40 Euro) heftige Kritik an Atombetreibern und Atom-Lobby. »Woher wollen die denn wissen, ob die Schweißnähte und Leitungen noch alle dicht sind, ob in Biblis oder anderswo, und wie lange die Schrauben und Muttern dem ernormen Druck noch standhalten«, fragt sie. Und: »Was hat ein Gewerkschafter wie ver.di-Chef Bsirske im Aufsichtsrat eines AKW-Betreibers zu suchen? Joschka Fischer verdient Millionen, indem er ausgerechnet Atomkonzerne in Nachhaltigkeit und Ökologie berät.« Ein Raunen geht durch das Publikum.
Die ehemalige Grüne ruft ihre Zuhörer auf: »Zerschlagt den Filz! Organisiert den Protest, bündelt eure Kräfte!« Jutta Ditfurth ist optimistisch, ist vom Erfolg des Widerstandes überzeugt. Sie verweist auf die Anti-AKW-Bewegung der 70er Jahre, die es geschafft hatte, das Vorhaben der sozial-liberalen Koalition zu vereiteln, bis zu 300 AKW in der Bundesrepublik zu errichten. Allerdings genügten nicht »niedliche Menschenketten, Luftballons, fröhliche Clownsnasen«.
Die Japanerin Aya Onodera glaubt nicht, dass die Fischfabrik ihres Vaters wieder aufgebaut wird, »sie ist völlig zerstört«. Die junge Künstlerin war Gast am Stand der Deutsch-Japanischen Gesellschaft Leipzig, die zahlreiche Veranstaltungen mit Schriftstellern, Wissenschaftlern und Informatikern aus Japan geplant hatte. »Sie mussten alle absagen«, informiert Thomas Schulze, Präsident der Gesellschaft. Der Buchbinder hat in den 90er Jahren in Japan gearbeitet, er ist mit einer Japanerin verheiratet, deren Familie »zum Glück wohlauf ist«. Am Sonntag wurden 1000 Oregami, Papierkraniche, gefaltet, »für Hiroshima und Sendai«, sagte Schulze.
Der von der Gesellschaft betreute »Japanische Teegarten« erfreute sich eines immensen Besucherandrangs, vor allem von Kindern und Jugendlichen in Manga-Kostümen, Kostümen von Comic-Figuren aus Japan. Chielko Schulze-Furuya malte für die Kinder in japanischer Schrift das Wort »Hoffnung« auf Aquarellpapier; ihr schönes Gesicht war dabei von würdevollem Ernst. Der 11. März war der Tag, an dem das Lächeln erstarb.
Meine Aufmerksamkeit erregt eine in grünlich-blauen Tönen gehaltene Zeichnung, auf der wild ineinandergreifende Wirbel und Strömungen zu sehen sind. Diese Arbeit ist Wochen vor der Katastrophe entstanden, sagt Aya Onodera. Ich bitte sie, mir die Zeilen in Japanisch auf dem Blatt zu übersetzen. Leise liest die Malerin vor: »Das Meer nimmt alle und alles in großer Liebe auf.«
Zeichnungen von Aya Onodera sind gegen eine Spende von 100 Euro erhältlich.
www.ayaonodera.com
Morgen im ND: Buchmesse Leipzig – eine Bilanz
Siehe auch: Fotogalerie
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