Chinas Kernenergie auf dem Prüfstand

Das Dilemma der Energiepolitik im Reich der Mitte: Brauchbare Alternative nicht in Sicht

  • Lutz Pohle, Peking
  • Lesedauer: 4 Min.
China setzt weiter auf Kernenergie, hat jedoch die Überprüfung aller existierenden und im Bau befindlichen Kernkraftwerke angeordnet. Die Genehmigungsverfahren für den Bau neuer Reaktoren wurden ausgesetzt. Das beschloss der Staatsrat der Volksrepublik – die Regierung – am 16. März angesichts der nuklearen Katastrophe in Japan.

Zwei Tage zuvor hatte Premier Wen Jiabao bei der Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses (NVK) noch bestätigt, dass China sein Kernenergieprogramm vorantreiben, den Bau von 25 neuen Reaktoren zu Ende bringen und weitere Anlagen errichten wolle. Auf der Abschlusspressekonferenz der Parlamentstagung – vier Tage nach dem Erdbeben – wurde die nukleare Katastrophe in Japan mit keinem Wort erwähnt.

In China stehen bisher 13 Reaktoren in vier Kernkraftwerken. Eines der bekanntesten liegt in der Daya-Bucht in der südchinesischen Provinz Guangdong, ganz in der Nähe der Millionenstädte Hongkong, Shenzhen und Guangzhou. Gegner des Projekts, vor allem in Hongkong, verwiesen immer wieder auf die Erdbebengefahr in diesem Gebiet.

Bisher deckt China allerdings nur etwa 1 Prozent seines Energieverbrauchs durch Atomkraft. Bis 2020 sollte der Anteil der aus Kernkraft erzeugten Energiemenge jedoch auf 6 Prozent steigen. Dazu wäre der Bau weiterer 30 bis 40 Meiler notwendig.

Das zeigt auch das Dilemma, in dem China steckt: Über 70 Prozent des erzeugten Stroms stammen heute aus Kohle. Deren größter Teil wird mit niedrigem Wirkungsgrad schlicht verbrannt, die Abgase werden schlecht gefiltert. Die enorme Belastung der Umwelt und des Klimas ist vor allem in den Großstädten spürbar. Fünf der am stärksten verschmutzten Metropolen dieser Welt liegen in China. Die verheerenden Folgen des CO2-Ausstoßes chinesischer Kohlekraftwerke sind bis zum Ozonloch in Neuseeland zu verfolgen.

Deshalb hatte sich China ehrgeizige Ziele zur Reduzierung seines CO2-Ausstoßes verordnet – auch wegen des Druck in den internationalen Klimaverhandlungen. Das Ziel, den Primärenergieverbrauch pro Einheit des Bruttosozialprodukts um 20 Prozent zu senken, wurde jedoch verfehlt. Der Übergang von einer extensiven Wirtschaft zu einer intensiven, nachhaltigen sei nicht in ausreichendem Maß gelungen, begründete Premier Wen dies vor dem Volkskongress. Durch Drosselung des Wachstums auf 7,5 Prozent bei steigender Effektivität der Produktion soll dieser Übergang nun gelingen. Damit könnte der Druck, die Energieerzeugung zu steigern, etwas nachlassen.

In jedem Fall aber müssen die alten Kohlekraftwerke modernisiert oder ersetzt werden. Zumal die chinesischen Kohlevorräte begrenzt sind und deren Nutzbarkeit immer weiter abnimmt. Schon jetzt gibt es beinahe jede Woche Meldungen über schwere Unfälle in chinesischen Kohleminen. Dafür verantwortlich ist neben dem skrupellosen Gewinnstreben der Betreiber und Besitzer auch der enorme Druck, die Produktion zu steigern, um den Bedarf des Landes zu decken.

Obwohl deutliche Fortschritte bei der Nutzung erneuerbarer Energien erreicht wurden, gleicht der Zuwachs den wachsenden Energieverbrauch bislang nicht aus. Bis in die 90er Jahre dümpelte China beim absoluten Energieverbrauch irgendwo weit hinten in der Weltrangliste, doch 2008 hatte es bereits Platz 2 hinter den USA erreicht. Anders beim Energieverbrauch pro Kopf der Bevölkerung: Einem Chinesen steht durchschnittlich nur etwa ein Achtel der Energiemenge zur Verfügung, die ein US-Amerikaner oder ein Westeuropäer verbraucht.

Tatsache bleibt, dass ein Ende der Kohlevorräte absehbar ist, die bekannten Öl- und Gasvorkommen die Lücke nicht schließen können und alternative Energien noch nicht weit genug entwickelt und ausgebaut sind, um den wachsenden Bedarf zu decken. Dabei wurden viele Gebiete des Landes gerade erst ans Stromnetz angeschlossen, und vielerorts fällt in Spitzenzeiten der Strom nach wie vor aus oder wird abgestellt, weil schlicht nicht genug vorhanden ist.

Weil bislang keine brauchbare Alternative in Sicht ist, heißt die offizielle Linie weiter, China brauche neue Atomkraftwerke, um den Energiebedarf der Zukunft decken zu können. Allerdings haben die Ereignisse in Japan eines bewirkt: Noch nie ist in China so viel und so öffentlich über Atomenergie nachgedacht und diskutiert worden wie derzeit. Fast rund um die Uhr berichten Fernsehen, Radio, Zeitungen und neue Medien über die Katastrophen im Nachbarland. Sie zeigen auch Bilder von den bedrohlichen Wolken über Fukushima und den verzweifelten Bemühungen, das Unglück zu begrenzen. So ist eine Öffentlichkeit entstanden, die es bisher in China nicht gab.

Ein Kommentator der offiziösen »China Daily« stellte kurz nach Beginn der Ereignisse noch verschämt fest: »Während eine Überprüfung aller Kernkraftwerke weltweit wohl das unmittelbare Ergebnis der gegenwärtigen Ereignisse sein dürfte, ist es noch zu früh, die langfristigen Auswirkungen auf die Atomwirtschaft und das Ökosystem vorherzusagen.« Auf einer Tagung von Umwelt- und Rechtsexperten der Pekinger Volksuniversität wurde ein Wissenschaftler deutlicher: Die Ereignisse zeigen, dass die Kernkraft unsicher ist.

Aber ob China ganz darauf verzichten kann, wird erst die Zukunft zeigen. Die Reaktion der Regierung in Peking, die Sicherheit laufender Anlagen überprüfen zu lassen und die Genehmigung neuer Reaktoren auszusetzen, zeigt jedenfalls, dass das Beispiel Japan wirkt.

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