Opium fürs Volk

Der New Yorker Richard Price im großstädtischen Drogenmilieu

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Der vorjährige Verkaufserfolg seines in New Yorks Lower East Side spielenden Sozialkrimis »Cash« dürfte die Neuvorstellung eines fast 20 Jahre alten Romanvorgängers ausgelöst haben. 1992 unter dem Titel »Söhne der Nacht« schon einmal auf deutsch erschienen, liegt das 800-Seiten-Werk nun unter dem neuen, kaum verbesserten Titel »Clockers« vor. Clockers sind afroamerikanische Rauschgiftdealer in der Großstadtwüste von New York und seinen wuchernden urbanen Rändern, die ihre Kunden rund um die Uhr mit »Stoff« versorgen.

Wie jüngst in »Cash« ist »Clockers« formal ein Krimi auf kleinteiliger, mühsamer Tätersuche. Doch in Erinnerung bleiben beide Bücher für eine ganz andere Qualität: Sie entwerfen ein quälendes soziales Sittenbild New Yorks und darüber hinaus US-amerikanischer Großstädte, denn das Heroin-Tagebuch, das der gebürtige New Yorker Richard Price (1949 in der Bronx) hier am Beispiel New York Citys und dem benachbarten New Jersey aufblättert, gibt es so oder so ähnlich natürlich auch in Los Angeles, Atlanta und Chicago.

»Clockers« vermittelt auf den vielen Seiten mehr als wir je zu erfahren hofften über zwei der am wenigsten vornehmen Berufe im brüchigen Bindegewebe riesiger Städte – über kleine wie große Rauschgifthändler und über Mitarbeiter der Mordkommission. Das Erfreuliche: Die Lektüre ist der Mühe wert, auch wenn der Leser Passagen passieren muss, die in ihrer Wiederholung gelegentliche Schwere verbreiten. Die genaue Recherche von Situationen und Personen (eine von Prices Stärken), die dichte, treffsichere Sprache und Dialoge sowie die gänzlich unsentimentale Wiedergabe einer meist lausigen Alltagswirklichkeit aus letztlich perspektivloser Rackerei in mehreren Jobs, aus Kindern und Jugendlichen, die schon bei Geburt chancenlos waren, und von Polizisten, die nur noch unter Aufbietung allen in langen Jahren erworbenen Zynismus' ihren Job schaffen – diese Qualitäten heben Price' Roman aus dem literarischen Durchschnitt markant heraus.

Price bindet seinen Erzählstrang konsequent an die beiden Hauptcharaktere seiner Mordaufklärungsgeschichte: den weißen Detektiv Rocco Klein von der Mordkommission, ein ebenso erfahrener wie desillusionierter Polizist mit dem immer mächtiger werdenden Wunsch nach Frühberentung, und den schwarzen Grünschnabel Ronald Dunham, besser bekannt unter dem Spitznamen Strike, der in einer heruntergekommenen Siedlung einen Ring von Dealern führt und selbst unter der Fuchtel eines Brutalos auf der nächsten Kommandoebene steht.

Eher ein armes Schwein als ein schillernder Ganove: »In diesem Spiel waren alle voller Scheiße« sagt »Strike« zu Beginn des Buches. Die Polizisten beschissen sich gegenseitig, die Dealer beschissen sich gegenseitig, die Polizisten beschissen die Dealer, die Dealer beschissen die Polizisten, die Polizisten nahmen Bestechungsgelder an, die Dealer knallten sich gegenseitig ab. Keiner wusste mit Sicherheit, wer auf welcher Seite war, keiner wusste mit Sicherheit, wie viel oder wie wenig Geld sonstwer machte. Das ganze Geschäft vollzog sich über Münztelefone in der Nacht. Genauso gut konnte man mit verbundenen Augen über ein Minenfeld laufen.«

»Clockers« offenbart dem Leser keine ländliche Idylle, sondern fast ausnahmslos Höllenhunde in einer großstädtisch-sozialer Verwahrlosung. Vertrauen kann sich nur leisten, wer endgültig scheitern will. Price war für Romane wie »Clockers« wochenlang mit Polizeistreifen durch New York und New Jersey gezogen. Aus dieser Erfahrung bezieht der Roman ein Gutteil seiner Authentizität, die nie vergnügungssteuerpflichtig ist.

Richard Price: Clockers. Roman. Aus dem amerik. Englisch von Peter Torberg. S. Fischer Verlag. 800 S., geb., 22,95 €.

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