Kontrollierter Absturz und Wiedergeburt

Vor zehn Jahren wurde die russische Weltraumstation »Mir« im Südpazifik versenkt

  • Jacqueline Myrrhe
  • Lesedauer: 4 Min.

»Welch eine Schande! Wir tragen unser liebstes Kind zu Grabe und müssen die Amerikaner fragen, ob es wirklich schon tot ist!« Auf dem langen Korridor des russischen Raumfahrtkontrollzentrums im Moskauer Vorort Koroljow macht am frühen Morgen des 23. März 2001 ein gestandener Ingenieur seinem Ärger Luft. Ein Progress-Raumschiff hatte kurz zuvor den letzten, entscheidenden Bremsimpuls geliefert, um den Orbitalkomplex »Mir« auf eine kontrollierte Absturzbahn zu manövrieren. Wenig später verlässt die »Mir« die Reichweite der russischen Bodenstationen von Ulan-Ude und Petropawlowsk, so dass um 8:31 Uhr Moskauer Zeit der Funkverkehr abbricht. Nun folgten 15 Minuten angespannten Wartens. Russland verfügte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr über ein globales Netz von Bodenstationen. Ab 8:45 Uhr konnten Radarstationen der USA auf dem Kwajalein-Atoll das Funksignal der russischen Weltraumstation empfangen und im Minutentakt den planmäßigen Verlauf des Absturzes der »Mir« bestätigten. Um 8:57 Uhr erklärte das russische Raumfahrtzentrum die Mission des Orbitalkomplexes für beendet. Die letzten Bruchstücke des kosmischen Außenpostens, die der Hitze des destruktiven Wiedereintritts in die Erdatmosphäre widerstanden hatten, stürzten in den Südpazifik östlich von Neuseeland. Nach 86 331 Erdumkreisungen und 15 Jahren ging im März 2001 eine Ära der Raumfahrt, nicht nur der russischen, zu Ende. Auch wenn die Lautsprecheransage im Koroljower Flugleitzentrum nüchtern verkündete, dass US-Stellen die Beendigung des Fluges der »Mir« bestätigt hatten, so waren die letzten Monate, wie bei keinem anderen Raumfahrtprojekt zuvor, ziemlich emotionsgeladen.

Bis zum Schluss gab es Proteste der kommunistischen Abgeordneten der Duma gegen die Entscheidung für den Absturz der »Mir«. Sie betrachteten die Raumstation als letztes Symbol der Sowjetunion und sahen im Absturz den symbolischen Niedergang der einstigen Raumfahrtmacht. Selbst der Sprecher des russischen Parlaments, Gennadi Zelesnew, sprach sich für eine Rettung der Raumstation aus. In Deutschland tourte ein Verein unter dem doppeldeutigen Motto »Helft Mir!« durch das Land. Angeblich hatte sogar der damalige iranische Präsident Mohammad Khatami bei einem Besuch im Moskauer Flugleitzentrum im März 2001 eine Offerte zum weiteren Betrieb der russischen Station unterbreitet.

Dreh- und Angelpunkt aller Bemühungen war stets die Finanzierung. Der gesellschaftliche Umbruch in Russland hatte auch die Raumfahrtbudgets nicht ungeschoren gelassen. Auf der anderen Seite war die russische Regierung gerade Partner in dem Projekt einer Internationalen Raumstation geworden. Der Aufbau der ISS lief bereits seit dem November 1998 und finanzielle Probleme auf der russischen Seite hatten zu Verzögerungen im Fahrplan geführt. Die USA drängten Russland, sich auf ein Projekt zu konzentrieren, womit selbstredend die ISS gemeint war.

Parallel dazu gab es selbst in den USA einen, von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen, privaten Versuch zur Rettung der »Mir«. Das Unternehmen »MirCorp« schmiedete kommerzielle Pläne für die Erdumlaufbahn. Es gelang der Gruppe von »Raumfahrt-Rebellen« um den Multi-Millionär Walt Andersen die »Mir«- Station kurzzeitig zu privatisieren und mit 30 Millionen US-Dollar u. a. einen Flug zur Wartung der Station zu finanzieren. Diese ersten privaten Raumfahrtunternehmer scheiterten am politischen Druck aus Washington. Der preisgekrönte Film »Orphans of Apollo« dokumentiert dies eindrucksvoll.

Obwohl der Orbitalkomplex »Mir« in den Medien das Image einer pannengeplagten Raumstation hatte, ist diese Sicht zu kurz gegriffen. »Mir« war ursprünglich für einen siebenjährigen Betrieb konzipiert worden, wurde am Ende aber doppelt so lange betrieben. Rund 100 Astronauten und Kosmonauten aus 14 Nationen arbeiteten und lebten an Bord, darunter die Deutschen Ulf Merbold, Klaus-Dietrich Flade, Thomas Reiter und Reinhold Ewald. Die Britin Helen Sharman flog 1991 zur »Mir« und sagte darüber: »In der letzten Nacht vor meinem Rückflug resümierte ich meine Zeit an Bord und mir wurde klar, dass meine russischen Freunde recht hatten. Die Entfernung von der Erde verstärkt das, was wirklich wichtig ist: zwischenmenschliche Beziehungen und was Menschen füreinander tun können. Der Kosmos ist großartig und ein Teil davon zu sein, gibt Menschen das Gefühl der Großartigkeit.«

Mit Beginn des Shuttle-Mir-Programms Mitte der 90er Jahre teilten die Russen nicht nur ihre Erfahrungen im Langzeitaufenthalt in der Schwerelosigkeit mit den USA, sondern auch im Krisenmanagement, wie bei einer Kollision eines Progress-Frachters mit dem »Spektr«-Modul der Raumstation im Juni 1997 oder bei einem Schwelbrand an Bord vier Monate davor.

Das Ende der »Mir« machte erneut deutlich, welche Meisterleistungen die sowjetisch-russische Raumfahrt unter äußerst widrigen Umständen vollbrachte. Der spätere NASA-Chef Michael Griffin betonte in einer seiner Reden im Januar 2008: »Russland hat an seinem bemannten Raumfahrtprogramm unter Bedingungen festgehalten, die uns zum Aufgeben gezwungen hätten.« Und mit den ersten beiden russischen Modulen der ISS – »Sarja« und »Swesda« – fliegt zumindest äußerlich ein Stück »Mir« weiter um die Erde.

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