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Beeren, Spülmittel, Valium

In der Mainzer Giftinformationszentrale gehen täglich bis zu 100 Notrufe ein

  • Erik Jonas-Schmidt, dpa
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Feind ist klein, rot und giftig. Täglich braucht es bei Giftnotrufen in Sekunden die richtigen Gegenmaßnahmen, wenn Kinder etwa gefährliche Beeren schlucken. In der Giftinformationszentrale in der rheinland-pfälzischen Hauptstadt Mainz klingelt das Telefon mehr als 30 000 Mal im Jahr – und kleine Beeren sind dabei oft das geringste Problem.

Mainz. Draußen auf dem Flur rauschen Ärzte in weißen Kitteln vorbei, Pfleger schieben Betten mit Schwerkranken über den Gang. Es riecht nach Desinfektionsmitteln. Draußen ist die Intensivstation. Nur eine Tür weiter ist davon nicht mehr viel zu spüren. In den beiden Arbeitsräumen des Giftinformationszentrums an der Uniklinik Mainz gibt es keine Betten mit Kranken. Die Patienten sitzen irgendwo in Rheinland-Pfalz oder Hessen. Wenn das Telefon klingelt, geht es allerdings auch hier oft um Leben oder Tod.

Gefährlicher Eiben-Tee

Vor allem Kinder gehören zu den Patienten von Sacha Weilemann und seinem Team. Der Medizinprofessor und Leiter der Zentrale sieht den kommenden Frühlingstagen daher mit gemischten Gefühlen entgegen. »Wenn es warm wird, reifen die Beeren und das schlägt sich natürlich in unseren Anrufzahlen nieder«, sagt er. Tollkirsche, Maiglöckchen und Eibe sehen harmlos aus, führen aber zu Herz-Kreislauf-Problemen, Erbrechen und Fieber.

Der Giftnotruf ist dann die schnelle Hilfe für besorgte Eltern. Und nicht nur für die. »Ich kenne leider auch ältere Damen, die sich etwas Gutes tun wollten und an einem Eiben-Tee gestorben sind«, berichtet Weilemann.

Täglich gehen bis zu 100 Anrufe in Mainz ein, im Jahr sind es mehr als 30 000. Nur die Hotline in Berlin hat mehr Arbeit. Das liegt auch daran, dass von Mainz aus gleich zwei Bundesländer, Rheinland-Pfalz und Hessen, rund um die Uhr abgedeckt werden. Beide Länder teilen sich die Kosten von rund 800 000 Euro im Jahr. Die Anbindung an die Uniklinik und die Intensivstation ist einzigartig in Deutschland.

»Unsere Leute wissen aus eigener Erfahrung, wie Menschen unter Vergiftungen leiden«, sagt Weilemann. Zudem werten die Mainzer alle Telefonate wissenschaftlich aus. So stoßen sie auf unbekannte Nebenwirkungen von Medikamenten und können neue Behandlungsmethoden entwickeln. Ihre riesige Datenbank spuckt bei den Beratungen in Sekunden die richtigen Gegenmaßnahmen aus. Während Kinder oft aus Neugierde Beeren essen oder Spülmittel trinken, vergiften sich Erwachsene meist mit dem Wunsch zu sterben oder einen Rausch zu erleben. »Bei den Erwachsenen sind die Vergiftungen zu 90 Prozent durch Medikamente absichtlich bedingt, durch Drogen zu drei Prozent«, sagt Ralf Nehring, Referent für gesundheitlichen Umweltschutz im rheinland-pfälzischen Umweltministerium in Mainz.

Das Kind nicht schütteln!

Die Zahlen sind dabei relativ stabil, die Mittel wechseln. »Was früher Schlafmittel waren, sind heute Antidepressiva«, erläutert Sacha Weilemann. Er arbeitet seit mehr als 20 Jahren für den Giftnotruf und kennt das Verhältnis seiner Mitmenschen zur Chemie. »Valium ist die moderne Droge der Massen«, sagt er. Ärzte müssten bei der Verschreibung wesentlich vorsichtiger sein.

In anderen Fällen kann der Mediziner allerdings schneller Entwarnung melden. Die drei Mainzer Züchter von Giftschlangen sind mittlerweile bekannt und gut erfasst. Kindern passiert nichts, wenn sie die Anti-Baby-Pille der Mama mit Bonbons verwechseln. Und auch die heutigen Spülmittel sind meist harmlos. Der Rat der Giftexperten: Vorsichtig einen Schluck Wasser trinken. »Mütter wenden dann ein, dass es doch schäumen könnte«, sagt Weilemann. »Ich kann da nur antworten: Sie dürfen das Kind eben nicht schütteln.«

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