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Fee Delcine
Hernán Rivera Letelier: Die Filmerzählerin
Er sei in einer Minensiedlung in der Atacama-Wüste im Norden Chiles aufgewachsen, sagt uns der Verlag über Hernán Rivera Letelier, und er sei mit 21 zum Schreiben gekommen. Buchstäblich aus Hunger – ein Radiosender hatte als ersten Preis für das beste Gedicht ein Abendessen versprochen. Vielleicht wäre Hernán Rivera Letelier nicht zu dem berühmten Autor geworden, der er heute ist, hätte er damals für sein vierseitiges Liebesgedicht nicht in einem feinen Restaurant speisen dürfen. So aber kostete er vom Lohn, den das Erzählen auch einbringen kann, und bekam Appetit.
Der kleine Roman »Die Filmerzählerin« spielt auch in einer Minensiedlung, wo die Männer im Salpeterabbau schuften und die Frauen viele Kinder haben. Das zehnjährige Mädchen, dem wir begegnen, ist die Jüngste von fünf Geschwistern. Vater krank, Mutter über alle Berge. Hoffnung keine, dass mal alles besser wird. Wenigstens gibt es ein Kino im Ort, doch weil es an Geld fehlt, allen fünf Kindern die Freude zu machen, und der Vater ohnehin nicht laufen kann, soll nur Einer dorthin entsandt werden und den Anderen sein Erlebnis erzählen. Eine Prüfung soll das entscheiden, und alle staunen: María Margarita kann es am besten.
Sie ist »die Filmerzählerin«, die der Titel meint. Sie zeigt uns – wie das Titelbild – dass selbst in ärmlichster Umgebung ein solches Tanzen, Schweben möglich ist und wie alle verzaubert werden, die dabei sind. Am meisten aber verzaubert es diejenige, die dieses Kunststück vollführt.
Etwas, das der Autor wohl auch an sich selbst erfahren hat: Erzählend vermag er aus sich selbst herauszutreten und dabei doch ganz bei sich zu sein. In die Haut fremder Menschen schlüpfeng, gewinnt er ihr Leben gleichsam zu dem seinen hinzu. Wie ihm das geschieht, er staunt über sich selbst, und er kann es nicht wirklich erklären. Davon handelt dieses Buch: von der Extase durch Kunst, die umso stärker leuchtet vor düsterem Hintergrund.
Erst langsam begreifen wir: María Margarita spricht zu uns als alte Frau, zurückblickend auf vergoldete Jahre. Was alles ihr später widerfuhr, wir werden es erfahren. Es erstaunt uns nicht, dass sie ihre Gabe wohl nicht verlor, dass sie aber überflüssig wurde. Als immer mehr Leute einen Fernsehapparat hatten, brauchten sie sich nicht mehr in ihrem Haus zu versammeln. Die Kunst und die Massenkultur. Bitternis – und Süße dennoch. Denn es gab sie, die sich für ihre Zuhörer »Fee Delcine« nannte, der die Menschen an den Lippen hingen, und es gibt sie noch, wie sie jetzt zu uns spricht.
Hernán Rivera Letelier: Die Filmerzählerin. Roman. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Insel Verlag. 105 S., geb., 14,90 €.
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