Mach mir den Lear!
Theatertreffen Berlin: »Testament« von She She Pop und Vätern
Zum Vererben gehören immer zwei: einer, der gibt und der andere, der nimmt. Das Tröstlichste, was zu sagen wäre, ist, dass derjenige, der etwas hinterlässt, das nicht mehr miterlebt: Es geht ihn nichts mehr an, was seine Erben mit dem machen, was von seinem Leben übrigbleibt.
Hört sich brutal an, aber es ist von der Natur durchaus weise eingerichtet, denn auch für den, der erbt, ist das nicht nur eitel Freude. Manchmal bekommt man etwas aufgeladen, womit man sich lieber nicht beschweren möchte. Vererbt werden nicht nur materielle Güter, die finden noch am ehesten dankbare Abnehmer – viel heikler steht es mit dem, was ideell von einem Menschen bleibt – oder auch dem Bild, das ganze Generationen ihren Kindern von sich hinterlassen.
Von Shakespeare gibt es ein berühmtes Stück über einen Spezialfall des Erbens: das zu Lebzeiten. Weil dies gegen alle Natur ist, gerät es zur Tragödie. Nun hat das »Performance-Kollektiv« She She Pop sich des Themas im Berliner HAU angenommen: »Verspätete Vorbereitungen zum Generationswechsel nach Lear«. Diese Gruppe besteht seit gut zehn Jahren aus Absolventen der angewandten Theaterwissenschaft in Gießen und betreibt »offene Dramaturgie«. Da ist es besser, nicht in der ersten Reihe zu sitzen, denn das »Interaktive« ist ein Merkmal dieser Dramaturgie.
Mit anderen Worten: Mitmachtheater, bei dem, was auf der Bühne nicht funktioniert, den Zuschauern überantwortet wird. Das passiert bei »Testament« glücklicherweise nicht, denn da sind die Performer auf Bühne bereits ausreichend beschäftigt – drei von ihnen haben ihre Väter mitgebracht, um das Lear-Problem mit ihnen durchzuspielen.
Die Kinder beklagen sich: Das Leben ihrer Väter ist mit ihrem nicht kompatibel. Der eine der Alten ist zu unordentlich – bereits wenn er den Sohn besucht, lässt er Glasscherben im Waschbecken liegen, trinkt schon mittags Rotwein und liebt Theater, jedoch eher in der Art, wie es Claus Peymann oder Dieter Dorn betreiben. Außerdem hat er eine riesige Bibliothek – Zusammenleben also ausgeschlossen. Ein anderer Vater kümmert sich viel um die Kinder des Bruders jener Tochter, die hier auf der Bühne steht und selber keine Kinder hat. Mal nachrechnen, was für einen Geldvorteil dieser Bruder somit hat, hier »Enkelfaktor« genannt? Die Alten lächeln, zumeist auf Sesseln festsitzend, wie in einer Talkshow in Kameras schauend, die ihre Gesichter auf eine Leinwand projizieren. Das dies eine ziemlich sinnlose Aufrechnerei ist, liegt schnell offen.
Bei aller Skepsis, die man mit den bildungsbürgerlichen Vätern gegenüber dieser Kopfgeburt aus dem theaterwissenschaftlichen Seminar teilt: Irgendwie funktioniert es dann doch, vor allem wegen dieser Väter, die alles, was nach gefertigten Konzept aussieht, schmeckt oder riecht, gekonnt torpedieren. Da kommt überlegener Geist ins Spiel und etwas, das dieser etwas angestrengten Kunstübung sonst völlig abgeht: Selbstironie, Bosheit, auch Melancholie.
Denn das lässt sich nicht übersehen: Das Konzept des Abends ist simpel, ziemlich brav sogar. Und es fehlt ihm, wie jedem Konzept, das, was das richtige Leben ausmacht: Liebe oder auch Hass. Am Anfang wird die Schlüsselszene des »Lear« noch einmal nachgespielt – und an der Wand läuft über einen Projektor den ganzen Abend über jener Shakespeare-Text mit, aus dem dann nur ab und zu mal mit kulinarischem Nachschmecken einzelne Sätze gesprochen werden.
Nun gut, der Abend heißt »nach Shakespeare«, darum besteht keine Verpflichtung, nun das gesamte Stück zu spielen – nur jene zentrale Frage des Generationswechsels wird umkreist. Wie tritt die eine ab und die andere an? Ab einem bestimmten Alter bemerkt wohl jeder, dass er seinen Eltern ähnlicher ist, als es ihm lieb ist. Von dem Punkt sind die beiden Töchter und der Sohn, die hier ihre Väter recht ungeniert verhören, allerdings noch um einiges entfernt.
Das ist das Lear-Problem auch: die Trägheit der Herzen, jene Selbstgerechtigkeit, von der Lear selbst schließlich so gründlich geheilt wird. Doch in seinen Nachkommen wachsen wieder neue Lears heran. Machtmenschen, die, wenn sie schließlich abtreten, in jener Wüste verdorren, die sie selbst zuvor angelegt haben. Oder ist es Schicksal, so wie in Balzacs »Vater Goriot«, der mit zwei Töchtern gestraft ist, die ihm rücksichtslos noch seine letzte Habe rauben? Er bringt aus Liebe sehenden Auges dieses Opfer – um von ihnen, als er nichts mehr besitzt, verleugnet zu werden.
Wie teilt man gerecht zwischen Alt und Jung? Wie berechnet man sein Leben – noch über den Tod hinaus? Das wird nun mit einiger Penetranz durchgespielt (wir sind schließlich in einem Rollenspiel mit pädagogischer Absicht!), und dies nervt nicht nur die Väter, denen man immer wieder sagt, dass sie bald alt und schwach, vor allem lästig sein werden. Von Liebe spricht keiner, und nur mit zaghaften Trotz sagen die Väter immer mal wieder inmitten der Aufrechnereien, man wolle doch nur etwas Würde und Respekt bewahren.
Gewiss, die Provokation der Kinder gelingt, schließlich soll die Gegenwärtigkeit des »Lears« erprobt werden. Fazit nach zwei Stunden Familientherapie: Am gesündesten für jedes Miteinander wäre es, zeitig zu wissen, dass es überhaupt nichts zu erben gibt. Da kann man sich dann endlich anderen, wichtigeren Themen zuwenden.
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