GÜNTHER RÜCKER: Auswendig lernen!
Marginalien zum KLEIST-JAHR 2011
Wer in jenen eindrucksfähigen, eindruckshungrigen Jahren der Jugend die Schönheit der Sprache aufspürt, wird sie bewahren und nie wieder verlieren wollen, und wenn Lehrer und Leiter eigene, ungewöhnliche Sprache fordern und fördern, was allerdings nie möglich ist ohne Förderung und Forderung eigener, ungewöhnlicher Gedanken, wird unsere Sprache neue Kräfte gewinnen.
Also schlage ich vor, einen Text des Heinrich von Kleist auszusuchen und ihn in den oberen Klassen von den Schülern auswendig lernen und laut vortragen zu lassen, wie das bei Gedichten seit eh und je für nützlich gilt, etwa den Beginn der Novelle »Das Bettelweib von Locarno« oder den des »Michael Kohlhaas« oder »Das Erdbeben von Chili.«
Sollte ich begründen, worin ich die Vorzüge ausgerechnet dieser Texte sehe, beschränkte ich mich darauf hinzuweisen, dass es heutzutage ganz besonders schwer zu sein scheint, einen Vorgang ohne Abschweifung und Kommentar zu beschreiben. Kleist genügen ein Dutzend Zeilen, und eine ungeheure Geschichte nimmt ihren Lauf. Kein einziges Wort zuviel wird verwendet, kein Nebensatz ist ohne Bedeutung fürs Ganze, und Ausdehnung und Verkürzung der Fabel werden sogleich deutlich benannt; und ist das erste Ziel erreicht, setzt der Dichter mit neuem Atem und neuer Kraft zu neuen Steigerungen an, entrollt aus Entsetzen, Verheerung, Leidenschaft wilde und große Bewegungen des Geschehens vor unserem Auge, setzt unsere Sinne gefangen und bleibt doch immer ein Berichtender, stellt sich immer unserer Prüfung. Selbst im mitreißendsten Strom von Rede und Widerrede, inmitten sich überstürzender, vernichtender Ungeheuerlichkeiten bleibt seine Sprache gezügelt und klar, auch im verhaltenen Beobachten der leisesten, zartesten Szenerie ist sie von schöner, bezaubernder Bewegung.
Aus: Günther Rücker: Woher die Geschichten kommen. Aufsätze. Aufbau-Verlag Berlin, 1990
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