- Kultur
- Sachbuch
Die Mär vom »Aufbau Ost«
Der Osten hängt am Tropf – Bedenkenswertes von Klaus Blessing und Wolfgang Kühn
Dieses Buch lebt auch von der Polemik. Es setzt sich mit den Kernthesen der öffentlichen Meinungsmanipulation auseinander. Die immer wieder kolportierte Behauptung, die DDR-Wirtschaft sei unproduktiv, marode und bankrott gewesen, wird an Hand von Fakten widerlegt. Den immer wieder politisch missbrauchten »Schürer-Bericht« aus dem Jahre 1989 konterkariert ein Bericht der Deutschen Bundesbank von 1999. Und die Anmaßung der Bundesregierung im Bericht zur Deutschen Einheit 2010, im Osten Deutschlands sei ein neues »Kleines Wirtschaftswunder« eingetreten, wird en detail ad absurdum geführt.
Klaus Blessing und Wolfgang Kühn berichten, dass das ostdeutsche Produktivitätsniveau 1989 dem von Großbritannien entsprach. Die Staatsverschuldung der DDR blieb 1989 deutlich unter jener der alten Bundesrepublik und betrug ein Bruchteil der heutigen. Das Lebensniveau der DDR-Bevölkerung hatte auf mehreren Gebieten durchaus »Westniveau« erreicht. Zum Beweis für solche Aussagen, die manche Leser überraschen werden, führen die Autoren ein 50 Seiten umfassendes, von der Zentralverwaltung für Statistik der DDR im September 1989 vorgelegtes Papier unter dem Titel »Vergleich der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zwischen der DDR und der BRD« an.
Ein nachträglicher Lobgesang auf die DDR-Wirtschaft ist das Buch von Blessing und Kühn nicht. Es widerlegt jedoch gängige Lügen. Im Zentrum steht nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart. Die Schönfärberei über 20 Jahre »Aufbau Ost« wird durch hier ausführlich zitierte bundesdeutsche Quellen entlarvt. Ein »Wirtschaftswunder Ost«, wie von der Regierung behauptet, gab und gibt es nicht. Das durchschnittliche Wirtschaftswachstum betrug in Ostdeutschland in den vergangenen 20 Jahren durchschnittlich 1,3 Prozent. Die Leistung der ostdeutschen Industrie hat heute erst zwei Drittel des DDR-Standes von 1989 erreicht. Wirtschafts- und Sozialdaten Ostdeutschlands verharren bei 75 Prozent Westniveau.
Dafür fand nach der »Vereinigung« eine Explosion der Finanzdienstleistungen statt. Mehrere Billionen DM Geld- und Immobilienvermögen hat es in westdeutschen Privatbesitz gespült, wie in einer Studie der Universität Frankfurt am Main nachgewiesen wurde.
Blessing und Kühn fordern durchgreifende politische Veränderungen. »Einen Ausweg gibt es nur, wenn im Zuge einer wirtschaftlichen Erneuerung in der gesamten Bundesrepublik die Modernisierung und Umstrukturierung auf zukunftsfähige Technologien verstärkt in Ostdeutschland angesiedelt wird. Es ist jedoch keine politische Kraft sichtbar, die diese miteinander verbundenen Ziele – Umstrukturierung der bundesdeutschen Wirtschaft bei Konzentration auf den Osten Deutschlands – durchsetzen könnte.« Diesem Fazit der Autoren ist leider nicht zu widersprechen.
Bei der Präsentation ihres Buches auf der Leipziger Buchmesse meinten die Autoren, dieses sei nunmehr ihre letzte Publikation zur Problematik, denn es gebe nichts Neues mehr zu erforschen und zu dokumentieren. Ob dem so ist, wird sich zeigen. Zuzustimmen ist den Autoren, wenn sie urteilen: »Wer die in unserem Buch behandelten Tatsachen zur Kenntnis nimmt, ist gegen die Entstellungen der herrschenden Propaganda gefeit.«
Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass dieses Buch viele Leser findet. So hätten unsachliche Behauptungen und frivole Lügen keine Chance mehr. Wer angesichts des im Buch von Blessing und Kühn gebündelten, aussagekräftigen Fakten- und Dokumentenmaterial weiterhin das Gegenteil propagiert, handelt vorsätzlich böswillig und verleumderisch.
Klaus Blessing/Wolfgang Kühn: Der Osten hängt am Tropf. Wie die Regierung uns belügt. Fakten kontra Propaganda. Verlag am Park, Berlin 2011. 176 S., br., 9,95 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.