Es träumt die Ruine am schönsten vom Luftschloss ...
Es ist eine der traurigsten Geschichten moderner Weltdramatik: Arthur Millers »Tod eines Handlungsreisenden« erzählt von der Gnade und dem Geschenk jener Lüge, sich bis ins Kerngebiet der eigenen Familie größer zu machen, als es die Realität zulässt. Eine Gnade und ein Geschenk, diese Kraft der Lüge. Bis man, indem man trotzig – das ganz andere Leben träumend – die Zähne zusammenbeißt, doch auf die Giftkapsel beißt. Und heraus kommt die Wahrheit: Du bist nichts, du wirst nicht gebraucht, du bist im Aus. Wer diese Wahrheit verdrängen kann, tut dies um den Preis, sich eine Kugel durch die Seele zu jagen. Wer sie nicht länger verdrängen kann, diese Wahrheit, der schießt sich eine Kugel durch den Kopf. Kapitalismus heißt, du stirbst zweimal.
Willy Loman, der kleine, großspurige, verzweifelt sehnige Träumer vom amerikanischen Traum, er ist ein Traumtänzer, ein Hoffnungskrüppel, ein Versager, der jener teuflischen Illusion nicht entsagen kann, sich noch tief unten als Gewinner zu präsentieren. Millers Stück ist der zeitlos moderne Reiseführer durch jede Krise – Stefan Pucher inszenierte das Stück am Schauspielhaus Zürich, aber so, als bemühe er sich in jedem Detail seiner Arbeit um größtmögliche historische Distanz. Er schaut den rudernden, zappelnden, scheiternden Menschen aus starker Entfernung zu, das Amerika der fünfziger Jahre entfaltet sich im Bühnenraum als Panorama einladend schicker Bürgerlichkeit. Sieben Spielstätten, von der Küche bis zum Kamin, alles hell und stilvoll. Möbel einer mythischen Verklärung und zugleich eines totalen Biedersinns – so ist hier alles zu nehmen: Hollywood und Provinz sind spiegelverkehrte Weltflächen, von denen jede die jeweils andere aufwertet und zugleich lächerlich macht.
Das Verblüffende besteht in der Wirkung dieser historischen Ent-Rückung. Es liegt eine solche Unberührtheit über der Szene, wie man sie nur bei der Verkündung eines nicht bezweifelbaren Grundgesetzes aufbringen kann. Das Entsetzliche ist hier das Lakonische. Das Böse liegt im Unaufgeregten seiner Präsenz. Freiheit ist ein rhetorisches Versatzstück im Fundus der Rechtfertigungsphrasen, die Welt der Konkurrenz zu preisen, während man gerade vom Karussell fliegt.
Das Faszinierende am Bühnenbild von Stéphane Laimé ist seine prunkende Funktionalität, die das Theater geradezu suggestiv in die Gleichzeitigkeit von Kulturgeschichte und Leben entführt. Hier spielen die Schauspieler, als lebten sie, hier laufen die Fernseher, als seien auch sie das wahre Leben, und wie das einzig Wahre am Leben benehmen sich auch die amerikanischen Filme auf dem Bildschirm. So ist alles Entfremdung und auch Traumfabrik; wo die kalte, krude, hässliche Tragödie lauert, hockt sich die Ahnung vom besten aller Drehbücher gleich daneben.
In diesem Raum ist Robert Hunger-Bühler, ein verwegen spröder, mit grandiosen Verzögerungstechniken ausgestatteter Schauspieler, ein geradlinig unglücklicher, unverkitscht sich windender, spreizender Loman; er steht im Zentrum einer Galerie von Gestalten, die ihre Augen so erschrocken und erledigt aufreißen, wie sie mit ihnen zwinkern.Das Psychologiefett, das die Geschichte tränkt, wird nicht auf heißer Flamme hochgekocht, es liegt wie kalter Talg unter den Szenen – der Abend erhält so eine erschütternde Leichtigkeit, die demonstrativ das Mitleid verweigert: Wir sitzen nicht im Theater, sondern doch eher alle im gleichen Boot, überall die gleiche Ahnung, eine Ahnung nicht von neuen Ufern, nicht vom Meer, nur davon, dass bald gar nichts mehr geht. Dies, der Ausverkauf der familiären Kräfte unterm Druck der sozialen Abhängigkeiten, wird präsentiert als Potpourri höchst lebendiger Pop-Ästhetiken.
Zum Schluss aber: Die Videoeinspielungen sind vorbei, die Töne in der Familie sind eisenhart geworden, Loman ist tot – da treten die Schauspieler als Band auf, Hunger-Bühler singt Velvet Underground, »I'm Set Free«, das greift bezwingend ans Herz, noch eiin letztes Mal die Lüge von der Freiheit.
Wir sehen Menschen, deren Leben gestürmte Festungen sind. Wahrscheinlich träumen Ruinen am schönsten vom Luftschloss.
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