Drei Jahre vertan
FDP und Union haben noch immer kein Konzept für ein neues Wahlrecht
Es klingt selbstverständlich, dass bei Wahlen die Stimmen jener Partei zu Gute kommen, die man angekreuzt hat. Doch das ist nicht unbedingt der Fall. Das deutsche Wahlsystem kann zu paradoxen Effekten führen, was selten so gut wie im Jahr 2005 bei einer Nachwahl in Dresden zu beobachten war. Damals »durfte« die CDU nicht mehr als 41 226 Zweitstimmen gewinnen, sondern musste mit Absicht ein Überhangmandat organisieren, sonst wäre ihr im Zuge der bundesweiten Verrechnung in Nordrhein-Westfalens ein Mandat verloren gegangen.
Mehr Stimmen können also einer Partei schaden, wie es auch umkehrt sein kann, dass weniger Stimmen mit einem Zugewinn an Sitzen belohnt wird. Dieses »negative Stimmengewicht« ist nach einem Urteil des Bundesverfassungsgericht von 2008 mit einer demokratischen Wahl nicht vereinbar. Es räumte dem Parlament großzügig eine Frist bis zum 30. Juni 2011 ein, um das Wahlrecht zu reparieren. In sechs Wochen läuft diese Frist ab, doch FDP und Union haben bis heute nichts zu Papier gebracht und müssen nun damit leben, dass sie am Donnerstag von der Opposition im Bundestag ordentlich vorgeführt wurden. Allein deshalb, weil SPD, LINKE und Grüne inzwischen allesamt Konzepte vorgelegt haben.
Und so blieb die Kritik des Unionsvertreters Günter Krings, der die Modelle als »unsinnig«, »untauglich« und »nicht mehr als Papier« recht schneidig verriss, letztlich ein kläglicher Auftritt. Denn dass die Koalition längst etwas hätte vorlegen müssen, räumte auch Krings ein. Einen Hinweis, wann es so weit sein könnte, blieb er allerdings schuldig.
Über die bisherigen Pläne der Koalition ist bislang nur bekannt, dass sie das Thema verfehlen: Das Problem würde damit nicht gelöst, bescheinigte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags. Die Koalition, genauer die Union, tut sich schwer mit der Reform. Denn sie will an Überhangmandaten festhalten. Die gelten aber als der zentrale Ansatzpunkt für eine Lösung.
Überhangmandate sind Bonbons für große Parteien. Sie entstehen immer dann, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erringt, als ihr nach den Zweitstimmen zustehen. Der Union haben sie in dieser Legislatur 24 zusätzliche Abgeordnete verschafft – »fast Fraktionsstärke«, wie der SPD-Parlamentarier Thomas Oppermann betonte, dessen Partei in der Vergangenheit als einzige neben der Union von diesen Bonussitzen profitiert hat. Nimmt man aktuelle Umfragen als Basis, könnte ihre Zahl künftig auf 50 bis 60 anwachsen. Zum Vergleich: Die Grünen haben derzeit 68 Sitze.
Die Opposition hält diese seit Langem umstrittene Verzerrung für die eigentliche Ungerechtigkeit des gegenwärtigen Wahlsystems, folgenschwerer jedenfalls, als das negative Stimmengewicht, das immer nur ein oder zwei Mandate verschiebt. Denn damit kann ein Teil der Wähler mehr Abgeordnete in den Bundestag entsenden. Ihre Stimme wiegt also doppelt.
Die Oppositionsparteien wollen die Überhangmandate deshalb auf verschiedene Weise neutralisieren. Die SPD will sie durch zusätzliche Mandate für die anderen Parteien ausgleichen. Sollte sich der Bundestag dadurch zu sehr aufblähen, könnte die Zahl der Direktmandate verringert werden. Die Grünen wollen Direkt- und Listenmandate verrechnen. Die LINKE schlägt einen Mix aus beidem vor. Danach könnten in »seltenen« Fällen wie bei der nur in Bayern vertretenen CSU dennoch Überhangmandate entstehen, die – entgegen der Grünen-Vorlage – zwar zuerkannt, aber mit Ausgleichsmandaten kompensiert werden. Die Linksfraktion plädiert in ihrem Antrag darüber hinaus für eine umfassende Reform des Wahlrechts. So sollen die Fünf-Prozent-Hürde abgeschafft und das aktive Wahlrecht Jugendlichen ab 16 Jahren ebenso zugestanden werden wie Ausländern, die seit fünf Jahren legal in Deutschland leben.
Auch außerhalb des Parlaments gibt es Kritik. »Die Regierung behandelt unser Wahlrecht wie eine Nebensächlichkeit«, klagt Ralf-Uwe Beck von »Mehr Demokratie«. Er findet das »respektlos« gegenüber den Wählern. Sein Verein sammelt derzeit Unterschriften für ein verfassungskonformes Wahlrecht ohne Überhangmandate.
Kaum einer glaubt, dass die Frist einzuhalten ist. Es sei denn, die Regierungsfraktionen ziehen die Wahlreform mit ihrer Mehrheit im Alleingang durch. Für diesen Fall will Oppermann nicht ausschließen, »dass wir uns in Karlsruhe wiedersehen«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.