Sprossen im EHEC-Puzzle

Betrieb in Kreis Uelzen gesperrt / Opferzahlen steigen / Fragen über ein Bundeswehrlabor

  • René Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.
Sprossen aus Niedersachsen könnten eine wesentliche Ursache für den Ausbruch der EHEC-Epidemie in Norddeutschland sein. Das teilte das niedersächsische Landwirtschaftsministerium in Hannover am Sonntag mit. Ein definitiver Labornachweis dafür fehle aber bisher. Verursacher soll ein Betrieb aus dem Kreis Uelzen sein, der vorerst gesperrt wurde.

Die Indizienlage sei so eindeutig, dass das Ministerium empfiehlt, derzeit auf den Verzehr von Sprossen – Bohnenkeimlinge, Brokkolisprossen, Erbsen- und Kichererbsensprossen, Knoblauchsprossen, Linsensprossen, Mungobohnenkeimlinge, Radieschen- und Rettichsprossen für Salate – zu verzichten, hieß es in einer Mitteilung. Definitive Aussagen könnten bis Montagmittag möglich sein, sagte Landwirtschaftsminister Gert Lindemann (CDU). »Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die mit dem EHEC-Erreger kontaminierte Ware bereits vollständig verarbeitet und verkauft wurde«, hieß es weiter. Lindemann sagte, eine Mitarbeiterin aus dem betroffenen Betrieb sei nachweislich an EHEC erkrankt. »Das ist für uns die plausibelste Erkrankungsursache«, so der Minister. Die Sprossen wurden direkt oder über Zwischenhändler an Einrichtungen in Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und Niedersachsen geliefert.

Seit Anfang Mai infizierten sich in Deutschland 1526 Menschen mit EHEC-Bakterien. Fast 600 Patienten haben das gefährliche hämolytisch-urämische Syndrom (HUS) entwickelt. 70 Prozent davon sind Frauen. Mindestens 21 Menschen starben. Erst für Mittwoch ist ein Krisengipfel geplant.

Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP), der Versorgungsprobleme vor allem in norddeutschen Krankenhäusern einräumte, besuchte am Sonntag das Unikrankenhaus Hamburg-Eppendorf (UKE). Dort werden zahlreiche EHEC- und HUS-Patienten intensivmedizinisch behandelt. Er riet, vorsichtig zu sein. Kritik an der Arbeit von Bund und Ländern ließ er nicht gelten.

Nach Ansicht von Medizinern und Katastrophen-Forschern wurde mit der Fahndung nach den Ursachen zu spät begonnen. Obwohl gerade in Hamburg ähnliche Fälle in vergangenen Jahren bekannt waren. Wie damals, so gelingt es auch diesmal noch nicht, aus Teil-erkenntnissen ein Gesamtbild zu bilden. Wie hilflos die Behörden vor Ort sind, zeigt sich an Fragebogenaktionen von Gesundheitsämter, die an Infizierte verteilt werden: Nachdem gefragt wurde, ob die Erkrankten in der Woche vor Beginn des Durchfalls rohe Tomaten, Mozzarella, Spargel, Ziegen- und Schafskäse, Salatgurken, rohe Möhren, grünen Salat, Rinderhackfleisch oder Erdbeeren gegessen haben, stellt man den Patienten die Frage: »Haben Sie eine sonstige Vorstellung, wo Ihre Erkrankung herrühren könnte?« Der CDU-Fraktionschef in Hamburgs Bürgerschaft, Dietrich Wersich, schlug vor, Polizisten an Krankenbetten zu schicken, um die Befragung professioneller zu gestalten. Dabei gibt es Hinweise.

Ein solcher Tipp führt nach Munster. Dort ist in der Humboldtstraße ein Wehrwissenschaftliches Institut für Schutztechnologien, kurz WIS genannt. Es untersteht dem Verteidigungsministerium, und was auf 750 Quadratmetern Laborfläche untersucht wird, ist streng geheim. Sicher ist, dass hier – so wie an einer Einrichtung in München – an biologischen Waffen geforscht wird. Um abwehrbereit zu sein. Vor allem in aktuellen und künftigen Einsatzgebieten der Bundeswehr. Afrika gehört dazu. Dort grassiert das »normale« Darmbakterium Escherichia coli, das große Ähnlichkeiten mit dem mutierten Bakterium in Deutschland hat.

Derartige im Auftrag des Militärs betriebenen Experimente sind durch das Abkommen über das »Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen« (BWÜ) gedeckt. Doch das Übereinkommen sieht als Kontrolle nur freiwillige Berichte an die UNO vor. Danach gab die Bundeswehr 2002 beispielsweise 5,2 Millionen Euro für die Forschung an B-Waffen aus. Missbrauch und Unfälle in Militärlabors sind bislang vor allem in den USA bekannt geworden.

Munster liegt südlich von Hamburg. 72 Prozent der durch EHEC verursachten kritischen HUS-Fälle sind laut Robert Koch-Institut in Schleswig-Holstein, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen registriert. Unterdessen kündigte die EU Hilfe an. Gesundheitskommissar John Dalli will EU-Experten nach Deutschland schicken. Kommentar Seite 4

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